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Lucy

Lucy

Titel: Lucy
Autoren: Laurence Gonzales
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durchs Zimmer, schloss das Fenster und legte sich wieder ins Bett, diesmal unter die Laken. Sie versuchte sich vorzustellen, wie der Schnee sein mochte. Auf Bildern hatte sie ihn schon gesehen. Festes Wasser. Was für eine seltsame Vorstellung. Sie fragte sich, wie er sich wohl anfühlte, und versuchte darüber einzuschlafen, doch die Maschinen auf der großen Straße brummten immer noch. Autos. Lastwagen. In der Ferne pfiff klagend ein Zug. |33| Auch hier hörte sie die Geräusche der Nacht, doch sie sagten ihr nichts, sie verstand sie nicht. Im Urwald wusste Lucy stets, ob ein Laut von einem Affen oder einem Vogel, von einer Katze oder einem Schwein stammte. Wenn sie dort ein Geräusch oder eine Stimme hörte, konnte sie sagen, ob es etwas Gutes oder Schlimmes war oder etwas, das sie nicht weiter kümmern musste. Das entfernte Heulen einer Sirene, hatte Jenny ihr erzählt, bedeutete, dass etwas Schlimmes passiert war. Aber was war dieses Schlimme? Und wer mochte da in Schwierigkeiten stecken? Jenny hatte ihr geraten, die Geräusche einfach zu ignorieren, weil man nie genau sagen könne, was sie bedeuteten. Wenn sie sich so etwas im Urwald angewöhnt hätte, dachte Lucy, wäre das lebensgefährlich geworden.
    Die Nacht war halb vorüber, ehe es ruhiger wurde auf der Straße. Der Lärm der Maschinen schwand, und Lucy driftete langsam in den Schlaf. In ihren Träumen war sie wieder im Urwald, und Papa hörte ihr zu, wie sie auf Französisch aus dem Buch von Montaigne vorlas: »Die bloße Buchgelehrsamkeit ist unerquicklich.« Der Tag neigte sich dem Ende zu, und sie fühlte sich sicher in ihrem Zuhause. Doch sie machte sich Sorgen, weil ihr Vater von seinem letzten Malariaanfall noch so schwach war. Er hatte die Krankheit schon vor langer Zeit bekommen, noch ehe es gute Medizin dagegen gab. Und diesmal hatte er tagelang im Bett gelegen.
    Dann begannen in der Ferne die Explosionen. Ihr Vater hörte auf zu lesen und ließ das Buch in den Schoß sinken. Lucy hatte ihn noch nie so besorgt gesehen. Er wandte ihr sein kantiges Gesicht zu und sah sie eindringlich an mit seinen Augen, die so blau waren wie kühles Bergwasser, doch jetzt blutunterlaufen von der Krankheit. Sein graues Haar war wirr und seine Haut bleich. Sie lauschten auf die näher kommenden Gewehrschüsse und konnten schon beißenden Rauch riechen, |34| da sagte ihr Vater zu ihr: »Geh mit Viaje und den anderen und versteck dich. Ich kann nicht so schnell laufen. Dazu bin ich zu schwach. Du musst dich in den Bäumen verbergen.« Er gab ihr einen Kuss, ehe er noch hinzufügte: »Ich liebe dich, Lucy. Vergiss das nie.« Und Lucy folgte den anderen in den Urwald. Obwohl sie jetzt schlief, war ihr vage bewusst, dass sie sich in einem Traum befand, und sie versuchte, ihm zu entkommen. Sie wollte etwas zu ihrem Vater sagen, doch sie konnte nicht sprechen.
    Zusammen mit Toby, Viaje und Faith kletterte sie in die Bäume hinauf und sah, wie die Soldaten in unordentlichen Reihen heranrückten, wie unheimliche Lichter in der Finsternis zuckten und Granaten explodierten. Ihr Vater duckte sich in die Hütte, und dann kam kreischend Leda aus dem Urwald angerannt und versuchte, die Hütte zu erreichen und ihn zu beschützen. Ein Soldat hob sein Gewehr und schoss. Der laute Knall zerriss die Luft. Leda zuckte zusammen und taumelte in die Hütte hinein. Als Lucys Vater in der Tür auftauchte, eröffneten gleich mehrere Soldaten auf einmal das Feuer. Rücklings fiel er in die Dunkelheit. Toby, Viaje und Faith schrien auf, und da erschossen die Soldaten auch sie. Schockiert sah Lucy sie zu Boden fallen. Dann plünderten die Soldaten die Hütte und zogen wieder ab.
    Erschrocken fuhr Lucy aus dem Schlaf auf. Einige Nächte lang hatte sie versucht, wach zu bleiben, um diesem Traum zu entgehen. Aber selbst wenn sie nicht einschlief, war es stets das Gleiche. Sie erinnerte sich an das Geschehene und konnte nicht verhindern, dass sie den Angriff in Gedanken immer und immer wieder durchging.
    Sie war aus dem Urwald gelaufen, sobald die Soldaten abgezogen waren. Die anderen hatten Angst und blieben zurück. Doch Lucy rannte in die Hütte und sah ihren Vater auf dem |35| Boden liegen. Weinend warf sie sich über ihn. Und dann fand sie Leda, hinter dem Vorhang, nahm auch sie in die Arme und weinte und weinte.
    Lucy konnte sich nicht mehr erinnern, wie lange sie so dagelegen hatte. Ihr Mund war ganz trocken geworden vom Weinen. Ihre Augen hatten wehgetan. Und dann war Jenny
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