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Lucy

Lucy

Titel: Lucy
Autoren: Laurence Gonzales
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musste sich etwas ändern.
    Im Winter geschah es schließlich. Großmutter White Feather gab uns ihren Segen. Und jetzt bauen wir ein weiteres Zimmer an die Hütte an.
    Schließlich nahm ich die Arbeit an meinem Buch wieder auf. Ich hatte damals nur die paar Seiten geschrieben, die Amanda gelesen hatte. Doch jetzt war ich entschlossen, meine Geschichte aufzuschreiben. Ich wollte sie Amanda zu Ehren erzählen. Und ich wollte es machen wie Anne Frank und ein Tagebuch schreiben. Ich weiß nicht, ob ich jemals so weise werde wie sie, aber sie ist mir ein steter Quell der Inspiration. Ich habe sie immer bewundert dafür, wie sie aus ihrem Leid etwas gemacht hat, das ihre kurze Lebensspanne überdauerte. Ihr verdanke ich es auch, dass ich meinem Vater vergeben konnte. Ja, er hat mir etwas angetan. Er war ein brillanter Wissenschaftler, ein Idealist, und mit seiner Einschätzung des Menschen hatte er immerhin recht. Da musste man sich nur ansehen, was Amanda geschehen war. Meiner lieben Amanda. Seine Entscheidung, mich zu erschaffen, mag falsch gewesen sein, doch dabei hatte er mir auch ein Geschenk gemacht. Die |428| Gabe, zu kämpfen, und die Gabe, mir einen Weg in die Zukunft zu entwerfen.
    Das Notizbuch, das Mom hinter ihrem Schreibtisch fand, hatte ich zuvor noch nie gesehen. Donna brachte es mir. Es war eines der letzten, die er vor seinem Tod schrieb.
    »Meine geliebte Lucy«, schrieb er. »Ich weiß nicht, ob und wann Du dies je lesen wirst, aber ich schreibe Dir dennoch mit all meiner Liebe. Als ich mich auf diesen Weg begab, war ich jung und idealistisch und wohl auch ein wenig zornig auf die Welt. Ich hatte noch keine Kinder, woher also hätte ich wissen sollen, was ein Kind eigentlich ist? Ich hatte nur ein abstraktes Bild, eine idealisierte Person vor Augen, eine Strategie, um die schönen Bonobos zu retten und irgendwie auch gleich noch die ganze Menschheit dazu. Eine kühne und ehrgeizige, aber auch eine verrückte Idee, wie ich jetzt weiß. Ich nannte Dich Lucy, nicht nach dem
Australophitecus afarensis
, wie manche wohl vermuten, sondern weil der Name ›Licht‹ bedeutet. Und Du wurdest das Licht meiner Welt. Denn erst dadurch, dass ich mit Dir lebte und Dich großzog, habe ich viele Dinge gelernt, für die ich zu unreif war, als ich begann. Ich lernte, was für eine wunderbare, erstaunliche Person Du bist. Ich lernte, Dich zu lieben. Ja, sogar Eltern müssen ihre Kinder, die ihnen zunächst fremd sind, erst lieben lernen. Und fast von unserem ersten Kontakt an   – ein Blick, ein glückliches Glucksen, Deine winzige Hand, die nach meinem Finger greift   – dämmerte mir, was ich getan hatte, und Furcht und Zweifel beschlichen mich. Ich war voller Liebe für Dich, doch diese Liebe wurde getrübt von Sorge, denn schließlich wurde mir klar, was ich getan hatte. Und je schöner und vollkommener Du Dich entwickeltest, desto größer wurde meine Furcht, dass Du in dieser Welt viel Leid wirst erdulden müssen. Dafür bitte ich Dich um Vergebung. Und ich bitte Dich, meine Liebe anzunehmen, |429| auch wenn ich nicht mehr für Dich da sein kann, wenn das Leben Dir seine Prüfungen auferlegt. Sei standhaft und stark, meine geliebte Tochter. Kämpfe. Und gib niemals auf. Ich liebe Dich. Papa.«
    Ich weinte, als ich es las. Ich weinte und vergab ihm und liebte ihn wieder. Ich glaube, er verstand die Abgründe der Menschheitsgeschichte: Dass wir alle irgendetwas an zukünftige Generationen weiterreichen, eine Gabe, die auch furchtbar sein kann, so wie irgendein verrückter Frühmensch uns das Feuer, den Stein, das Eisen geschenkt hat. Papa, Papa,
resquiescat in pace
. Ich weiß nicht, ob mein Buch je veröffentlicht wird, aber ich werde darin auch dein Andenken wahren. Jetzt muss ich das Ziel loslassen und mich einfach nur auf den Weg konzentrieren. Ich schreibe ein Wort nach dem anderen auf die Seite. Eine andere Möglichkeit gibt es nicht.
     
    Nur wenige Nachrichten aus der Außenwelt erreichen mich hier. Ich möchte es so. Einige unserer Leute wohnen in modernen Häusern und schauen Fernsehen, aber mir ist der Wald lieber. Ich denke die ganze Zeit an Mom, Amanda und Harry. In all den Monaten und Jahren habe ich meine Liebe für sie und auch den Schmerz in meinem Herzen bewahrt. Es scheint schon so lange her zu sein, dennoch sind sie alle so lebendig für mich. Ich denke jeden Tag an sie, und nichts ist verloren. Sie sind in mir. In meiner Seele. Du liebe Amanda, du hast mich im Wald geküsst. Manchmal, wenn
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