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Lucy

Lucy

Titel: Lucy
Autoren: Laurence Gonzales
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Mädchen mit Tattoos Jenny, ob sie noch irgendwelche Kleider von Lucy habe. Jenny erschrak, als sie so plötzlich Lucys Namen hörte, und zeigte auf eine Kleiderstange und einen Karton. Das Mädchen sah die Sachen eine Weile durch und kam dann mit einer Jeans, einigen T-Shirts und einem Paar italienischer Sandalen in der Hand zu Jenny.
    »Hat das Lucy gehört?«, fragte sie.
    »Ja, das gehörte ihr«, erwiderte Jenny.
    Sie zahlte, stopfte die Sachen in ihre Tasche und wandte sich zum Gehen. Dann drehte sie sich noch einmal nach Jenny um. »Ich weiß, dass sie irgendwo da draußen ist. Sie ist da draußen, und sie kommt wieder.«
    »Ich hoffe, du hast recht.« Jenny sah dem Mädchen nach. Sie konnte ihren Kummer spüren und fragte sich, was sie durchgemacht hatte. Sie erinnerte Jenny an die Mädchen im Heim.
    In der nächsten Woche brachten Jenny und Harry alles, was jetzt noch übrig war, zu einem Wohltätigkeitsverein. Das Haus verkauften sie einen Monat später. Als Jenny das Geld erhalten hatte, wollte sie die Hälfte davon ihrer Mutter geben, aber die lehnte ab. »Was soll ich damit machen?«, fragte sie. »Etwa fürs Alter sparen? Nimm Harry und fahr mit ihm nach Hawaii. Wusstest du eigentlich, dass du auf Hawaii gezeugt wurdest?« Nein, das hatte sie nicht gewusst, und sie staunte nicht schlecht, dass ihre Mutter ihr ein so intimes Detail anvertraute. Ihr erster Gedanke war: Alzheimer? Dann fragte sie sich, ob ihre Mutter einfach die Hoffnung auf Enkelkinder noch nicht ganz aufgegeben hatte.
     
    Jenny und Harry sprachen nicht weiter darüber, dass sie jetzt zusammenwohnten. Jennys Haus war verkauft, und so war es eben. Harry hatte gesagt, sie könne sich gern irgendeins |414| der Zimmer als Arbeitszimmer aussuchen, und sie entschied sich für das im zweiten Stock mit der Veranda. Dort saß sie oft Nachmittage lang, sah zu, wie das Licht sich veränderte, und dachte an Lucy und Amanda in ihren Bikinis, die auf dieser Veranda so gelacht hatten, dass sie von den Liegestühlen fielen.
    Jenny sah immer wieder die Craigslist-Anzeigen durch. Da sie von Donna nichts gehört hatte, musste sie einfach hoffen, dass Lucy es zum Zoo geschafft hatte. Und als sie in diesem Jahr keine Weihnachtskarte von Donna bekam, nahm sie an, dass Donna aus reiner Vorsicht keinen Kontakt aufnehmen wollte.
    Als sich Amandas Todestag zum ersten Mal jährte, waren Jenny und Harry im Osten des Tschad und behandelten Kinder, die sich an Streubomben und Granaten verletzt hatten. Es war eine der intensivsten Erfahrungen, die Jenny je gemacht hatte. Sie betreuten die Kinder psychologisch, wenn sie mit weggerissenen Armen und Beinen ins Krankenhaus gebracht wurden, führten Operationen durch und passten ihnen später ihre Prothesen an. Die Kinder waren stets lebhaft und fröhlich, selbst wenn sie die grässlichsten Verletzungen erlitten hatten. Erfahrungen wie diese hielten Jenny aufrecht.
    Als sie wieder in Chicago waren, arbeitete Jenny sehr viel im Mädchenheim. Abends, zu Hause, versuchte sie, über die wundersamen Erfahrungen, die sie im Tschad gemacht hatte, zu schreiben, doch sie konnte es nicht. Es ging ihr alles noch zu nahe. Und sie fürchtete auch, dass sie nicht den Mumm dafür hatte, wie Amanda gesagt hätte. Stattdessen schrieb Jenny einen kurzen wissenschaftlichen Aufsatz über die Ernährungsgewohnheiten der Bonobos, doch niemand wollte ihn veröffentlichen.
    An einem sonnigen Frühlingstag kam ein neues Mädchen ins Mädchenheim. Schon aus der Ferne konnte Jenny ihre |415| große innere Stärke spüren. Es war ein hübsches Mädchen, sehr groß und schlank, ihr braunes Haar fiel ihr in einem locker gebundenen Pferdeschwanz bis über die Schultern. Eins ihrer Ohren war ungefähr ein Dutzend Mal gepierct. Trotz des warmen Wetters trug sie eine Wollmütze, und unter ihren abgeschnittenen Jeans kam eine rote Woll-Leggings zum Vorschein. Ihre Füße steckten in klobigen Springerstiefeln.
    Einer der Unterstützer des Mädchenheims hatte für diesen ersten warmen Tag eine aufblasbare Wasserrutsche gemietet. Die jüngeren Mädchen hatten sie mit Beschlag belegt, kletterten immer wieder fröhlich hinauf und rutschten kreischend hinunter.
    Das neue Mädchen stand abseits, in Gedanken versunken, und sah den anderen zu. Die Mitarbeiter des Heims sollten eigentlich immer über jede neue Bewohnerin unterrichtet werden, doch von diesem Mädchen hatte Jenny niemand etwas erzählt. Manchmal wurden sie aber auch so kurzfristig aufgenommen, dass
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