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Lucy

Lucy

Titel: Lucy
Autoren: Laurence Gonzales
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für den Papierkram noch keine Zeit gewesen war. Dann war ihre Situation äußerst verzweifelt. Jenny wusste nur, dass dieses Mädchen sechzehn Jahre alt war.
    Jenny sah eine Weile zu, wie das Mädchen mit intensivem Blick die Kleineren und ein paar Teenager anstarrte, die wie junge Seehunde im Wasser planschten. Das Mädchen rührte sich nicht, lächelte nicht. Sie wirkte fast abwesend. Nach einiger Zeit wühlte sie in ihrer Handtasche und holte eine Zigarette heraus. Sie zündete sie mit einem Einwegfeuerzeug an und starrte weiter vor sich hin. Rauchen war natürlich verboten im Heim. Aber verboten war auch das meiste von dem, was diesen Mädchen angetan worden war. Nina wusste nur zu gut: Sag diesen Mädchen, sie sollen nicht rauchen, und sie sagen »Okay«. Und dann verschwinden sie.
    |416| Jenny ging zu ihr hin. »Hi, ich bin Jenny.«
    »Hey, Jenny.« Sie hatte ein offenes Lächeln und sah Jenny direkt in die Augen. »Ich bin Elise. Wollen Sie eine Zigarette?«
    »Nein, danke.« Elise sah weiter den Kindern zu. War sie geschlagen worden? Vergewaltigt? Warum war sie hier? Jenny konnte keine Anzeichen von blauen Flecken sehen, obwohl sich unter all den Sachen, die sie trug, vielleicht welche verbargen.
    »Du kannst gern auch auf die Wasserrutsche, wenn du möchtest. Es sind bereits ein paar ältere Mädchen dabei.«
    »Später vielleicht.«
    »Wenn du möchtest, zeige ich dir dein Zimmer.«
    »Okay.«
    »Hast du irgendwelche Sachen mitgebracht? Kleidung oder Dinge, die du einräumen willst?«
    »Nichts«, sagte Elise.
    »Na, dann komm, ich zeige dir dein Zimmer.«
    Elise ließ die Zigarette fallen, trat sie aus und folgte Jenny ins Haus hinein und in den zweiten Stock. Die Zimmer waren fast klösterlich einfach: ein schmales Bett, ein kleiner Tisch mit Stuhl, ein gerahmter Druck einer Landschaftsszene und ein Kreuz an der Wand, mehr war es nicht. Elise sah sich um, als sie eintrat, ging dann quer durchs Zimmer und nahm das Kreuz von der Wand. »Das brauch ich nicht«, sagte sie.
    »Okay. Kein Problem«, erwiderte Jenny.
    Elise ließ sich aufs Bett fallen und blieb zusammengesunken dort sitzen, so als ob sie sehr müde wäre.
    »Soll ich lieber gehen, oder möchtest du reden?«, fragte Jenny. »Darüber, warum du hier bist?«
    »Klar, warum nicht. War ja in allen Nachrichten«, sagte Elise. Jenny setzte sich neben sie und wartete. Elise seufzte, ehe sie begann. »Na ja, meine Mom hat uns gestern Morgen alle |417| ganz früh geweckt, mich, meinen kleinen Bruder Dave und die Zwillinge Jill und Jolene. Mom hat gesagt, dass wir einen Ausflug machen. Und dann hat sie uns ins Auto gesetzt und ist mit uns nach Hinckley an den See gefahren, ganz den Pier runter. Es war noch nicht richtig hell, und sie ist einfach immer weitergefahren, bis in den See rein. Ich hab Dave an der Hand festgehalten. Aber ich weiß nicht, was passiert ist. Irgendwie hab ich ihn verloren. Ich bin die Einzige, die überlebt hat.«
    Jenny hatte schon alle möglichen Geschichten gehört, aber diese machte sie vollkommen sprachlos. Als Elise vorhin die Kinder auf der Wasserrutsche anstarrte, hatte sie sicher an ihre Geschwister gedacht, die nun auf dem Grund des Sees lagen.
    Aus eigener Erfahrung, aber auch aus der Geschichte der Randalls hatte Jenny eine Vorstellung davon, wie man mit so einer Erfahrung umgehen, was einem in einer solchen Situation helfen konnte. Sie nahm Elise unter ihre Fittiche, und im Laufe der nächsten Monate kam das Mädchen wieder ein wenig zu sich. Elise freundete sich mit ein paar der jüngeren Mädchen an, und es stellte sich heraus, dass sie eine Künstlerin war. Ihr Vater war Grafiker und hatte sie von klein auf im Zeichnen unterrichtet, doch dann verließ er die Familie. Je mehr Elise aus ihrem Schneckenhaus hervorkam, desto deutlicher wurde ihr Talent. Oft saß sie in der Cafeteria und malte wunderbar realistische Porträts der anderen Mädchen   – verkehrt herum, damit die Porträtierten zusehen konnten, wie ihr Bild Gestalt annahm. Oder sie schnitt mit einem Buttermesser aus dem Speisesaal Gesichter als vollendete Reliefs in Modelliermasse. Jenny brauchte jemanden wie Elise in ihrem Leben. Elise hatte ihre ganze Familie verloren, und wenn sie mit diesem Mädchen zusammen war, vergaß sie alles Selbstmitleid.
    |418| Deshalb ging sie auch noch einmal für zwei Monate mit Harry in das Krankenhaus im Tschad. Wenn ein achtjähriges Kind, das durch die Explosion einer Granate beide Hände verloren hatte, vor ihr stand,
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