Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Lucy

Lucy

Titel: Lucy
Autoren: Laurence Gonzales
Vom Netzwerk:
in der Luft. Kurz darauf folgte das Stakkato von Maschinengewehren.
    Jenny hastete weiter. Schon drangen die ersten Strahlen des Tageslichts durch das Blätterdach des Urwalds, und sie schaltete die Taschenlampe aus. Ihre Augen gewöhnten sich an den Dämmer. Wieder wurde eine Granate abgeschossen.
    Sie rannte weiter, immer weiter. Denk nach, denk nach: Was als Nächstes? Nach Donald Stone sehen. Dann zum Fluss. Wenn sie jemanden mit einem Funkgerät finden könnte, würde David ihr helfen. Wenn er noch da war. Wenn die Botschaft noch stand. Wenn, wenn, wenn.
    Und so rannte Jenny weiter, den ganzen Tag lang, auf dem breiten Pfad, von dem sie wusste, dass er sie zu Donald Stones |8| Camp führen würde. Sie machte sich Gedanken um die Bonobos. Diese Menschenaffen waren zwar sehr kräftige, aber dennoch erstaunlich empfindsame Tiere, die allein schon aufgrund plötzlicher lauter Geräusche einen tödlichen Schock erleiden konnten. Andererseits waren die Bonobos auch klug und inzwischen sicher längst meilenweit weg irgendwo hoch oben in den Baumwipfeln. Manchmal erschienen sie Jenny fast menschlich. Sie hatte während ihres Studiums begonnen, im Zoo von Milwaukee mit der größten in Gefangenschaft lebenden Bonobo-Population zu arbeiten, die zu den letzten ihrer Art gehörte. Und als Jenny dort zum ersten Mal Blickkontakt mit dem dominanten Weibchen aufnahm, wusste sie, dass sie einem Tier ins Auge sah, mit dem sie sehr viel mehr verband als sie von ihm trennte. Wann immer sie nicht arbeiten musste, hatte sie Stunden mit der Beobachtung der Bonobos verbracht. Und seit Jenny zum ersten Mal im Kongo gewesen war, um sie in freier Wildbahn zu sehen, wusste sie, wohin sie gehörte.
    An einer Biegung des Pfads blieb sie stehen und lauschte. Das Granatfeuer schien nach Osten abgezogen zu sein. Sie schlug nach den Moskitos um sich herum. Schweiß tränkte ihr T-Shirt und rann ihr die Stirn hinab in die Augen. Sie band sich ein Halstuch um den Kopf und lief weiter. Bald darauf wurde sie von einem kurzen, aber heftigen Regenguss durchnässt. Nun, wenigstens hatte er die Insekten etwas vertrieben.
    Allmählich war sie furchtbar erschöpft und wünschte sich nichts sehnlicher als eine Ruhepause. Doch als es dunkel wurde, holte sie ihre Taschenlampe aus dem Rucksack und lief weiter. Die ganze Nacht hindurch hörte sie, wie die Kämpfe der Rebellen sich entfernten, näher kamen und sich wieder entfernten. Und zweimal in dieser Nacht konnte sie sogar den Rauch der Geschütze riechen.
    |9| Langsam brach der Morgen an. Der Dunst begann sich zu heben. Der Pfad wurde schmaler, jetzt würde Donald Stones Camp bald zu sehen sein. Sie war nur zweimal dort gewesen, und bei beiden Gelegenheiten hatte sie ihm eine Zusammenarbeit vorgeschlagen. Doch Stone hatte sie nur freundlich darauf hingewiesen, dass er eine Fütterungsstation für die Bonobos betreibe und Jenny nicht. Daher seien ihre Forschungsansätze nicht miteinander vereinbar. Jenny hatte es darauf beruhen lassen. Sie hatte viel zu viel mit ihrer eigenen Arbeit zu tun gehabt, um sich darüber lange Gedanken zu machen.
    Sie blieb so abrupt stehen, dass sie fast das Gleichgewicht verloren hätte. Zuerst hatte sie es für einen gewundenen Ast gehalten. Erst jetzt, da ihr Körper ganz instinktiv zurückgeprallt war, erkannte sie, dass sie eine dunkelbraune Waldkobra von etwa einem Meter Länge vor sich hatte. Die Schlange hatte sich lose um einen Ast geschlungen, den Kopf hoch erhoben. Jenny dachte an das, was der Toxikologe ihrer Universität zu ihr gesagt hatte, ehe sie zum ersten Mal in den Kongo ging: Wenn Sie einer von denen in freier Wildbahn begegnen, atmen Sie nicht. Die Kobra orientiert sich an Ihrem Kohlendioxid-Ausstoß. Und sollten Sie mehr als einen Kilometer von Ihrer Hütte entfernt von einer gebissen werden, brauchen Sie sich nicht mal mehr die Mühe zu machen, loszulaufen: Dann werden Sie auf jeden Fall sterben. Und Sie werden die ganze Zeit bei Bewusstein sein, während das Gift Sie nach und nach lähmt, bis schließlich Ihr Zwerchfell nicht mehr funktioniert.
    Jenny setzte zu einer Tai-Chi-Bewegung an und verlagerte, so langsam sie konnte, ihr Gewicht. Zentimeterweise bewegte sie sich rückwärts. Eine Minute verging. Zwei Minuten. Sie hatte noch keinen halben Meter zurückgelegt, da explodierte |10| wieder eine Granate. Von dem Knall aufgeschreckt, ließ sich die Kobra zu Boden fallen und verschwand wie ein fließender dunkler Blitzstrahl ins Unterholz.
    Jenny atmete
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher