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Lucy

Lucy

Titel: Lucy
Autoren: Laurence Gonzales
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kümmern.«
    »Wirst du bei mir bleiben?«
    »Nein. Meine Bonobos brauchen mich. Und es wäre schlimm, wenn ich plötzlich weggehen und sie allein lassen würde. Ich brauche sie auch.«
    Im Reservat fuhren wir eine breite Straße entlang, und auf einmal war ein Polizeiwagen mit Blaulicht hinter uns. Die Sirene heulte kurz auf, und mir blieb fast das Herz stehen.
    |425| »Alles okay«, sagte Donna. »Ich kenne ihn.«
    Der Polizist des Stammes hielt neben uns und grinste Donna durchs offene Seitenfenster an. »Na, wenn das nicht Donna White Feather ist. Dich hab ich ja seit Ewigkeiten nicht gesehen.«
    »Hey, Peter. Darf ich dir Lucy vorstellen. Lucy, das ist Peter Stands Alone. Er ist der Polizeichef hier.«
    »Hi, Lucy. Und herzlich willkommen.«
    »Sie war krank. Musste operiert werden«, sagte Donna und klopfte sich selbst auf den Kopf. »Ich möchte, dass sie sich hier eine Weile bei Großmutter erholt.«
    »Aber sicher. Es gibt jede Menge gute Medizin hier. Schön, dich mal wiederzusehen.«
    Donna fuhr in den Wald hinein bis zu Großmutter White Feathers Hütte und übergab mich den fürsorglichen Händen der alten Frau. »Sie weiß, was zu tun ist«, sagte Donna. »Tu immer, was sie dir sagt, und du wirst bald wieder gesund sein.«
    »Willkommen, Kind«, sagte Großmutter White Feather, trat auf mich zu und legte mir die Hände an die Wangen. Ihre Hände waren so glatt wie Papier und angenehm kühl. Einen Augenblick lang sah sie mir tief in die Augen, dann kicherte sie leise in sich hinein und sagte: »Mein Urgroßvater war zu einem Viertel ein Wolf.« Schließlich ließ sie mich los, hakte sich bei Donna unter und sagte, immer noch mit einem Kichern tief in der Brust: »Eine wie sie haben wir hier seit Generationen nicht gehabt.«
    Es gab frisch gefangene Forellen mit Wildreis zum Essen, und Donna blieb über Nacht. Zum ersten Mal seit einer Ewigkeit, wie mir schien, schlief ich wieder friedlich, mit dem Mondlicht auf der Haut und in der kühlen Nachtluft, die durchs Fenster hereinwehte.
    |426| Am nächsten Morgen verabschiedeten Donna und ich uns voneinander. Wir weinten nicht, denn wir wussten, dies war ein neuer Anfang. Ich sah ihr mit Großmutter White Feather nach, als sie davonfuhr. Wir konnten den Staub noch eine ganze Weile sehen. Dann wurde ich von Großmutter White Feather gebadet und in ihrer Hütte auf ein Lager gebettet. Sie machte mir einen kleinen Medizinbeutel aus Hirschleder, mit Krähenfedern, Pferdehaar und Perlen, und hängte ihn mir um den Hals. Mit einem Fächer aus Habichtfedern wedelte sie Rauch zu mir herüber und sang dabei leise. So schlief ich vier volle Monde lang, und sie sagte, es sei ein gutes Zeichen, dass der Himmel in all der Zeit klar gewesen war. Denn das Mondlicht heilt.
    Im Lauf des Herbstes brachte sie mir ihre Lebensgewohnheiten bei. Es machte ihr große Freude, dass ich mit den Tieren sprach, denn auch sie sprach mit ihnen. Und als sie merkte, dass ich Vögel aus den Bäumen herbeirufen oder ein Kaninchen auf meine Hand locken konnte, sagte sie, dass ich unbedingt Stan Brings Plenty kennenlernen müsse. Er könne Rotwild zu sich heranlocken.
    Ich mochte Stan Brings Plenty sofort. Wir hatten von Anfang an eine tiefe Verbindung zueinander, und so verbrachten wir wie selbstverständlich immer mehr Zeit miteinander. Doch nicht alle freuten sich, dass ich da war. Ein junger Mann namens Tom One Horn sagte zu Stan Brings Plenty, dass er sich besser von mir fernhalten solle, weil ich mit einem Fluch beladen sei. Dann versuchte Tom One Horn eines Nachts, sich in mein Zimmer zu schleichen. Doch Großmutter White Feather erwischte ihn und verprügelte ihn mit einem Stock. Ich hatte Angst, dass er darüber so wütend werden könnte, dass er der Regierung erzählte, wo ich war. Aber Großmutter White Feather versicherte mir, dass mich |427| hier keiner verraten würde. »Wir regeln unsere Streitigkeiten selbst«, sagte sie.
    Als es Sommer wurde, half Stan mir, meine eigene Hütte zu bauen. Im Herbst dann begann er, mich dort auch nachts zu besuchen.
    Ich dachte viel nach in jener Zeit und befragte mein Gewissen. In den Tagen meiner tiefsten Verzweiflung hatte ich meinen Vater viele Male gefragt, was er nur getan hatte. Deshalb fragte ich jetzt auch mich: Was willst du tun? Was ist das Richtige? Ich wusste, was mir widerfahren war. Aber ich wusste auch, dass ich weitergehen musste. Tief in meinem Herzen spürte ich, dass es richtig war. Amanda hätte auch gewollt, dass ich es tue. Es
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