Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Lucy

Lucy

Titel: Lucy
Autoren: Laurence Gonzales
Vom Netzwerk:
passieren?«
    »Aber nein, Schatz. Du kommst mit zu mir nach Hause, und dann werden wir versuchen, deine Familie zu finden.« Jenny sah David an, doch der runzelte skeptisch die Stirn. Sie zuckte die Achseln und schüttelte den Kopf.
    Über Nacht ließ David die beiden allein. Jenny meinte Lucy im Schlaf aufschreien zu hören, war aber selbst zu müde, um nachzusehen.
    Am nächsten Tag war David frühmorgens wieder da, und kurze Zeit darauf erschien noch ein anderer Mann. Er sah aus wie ein Lastwagenfahrer in Jeans und Flanellhemd und reichte David einen in Seidenpapier eingewickelten, brandneuen britischen Reisepass. »Sie haben das nie gesehen«, sagte er. »Und Sie haben mich nie getroffen. Jetzt sind wir quitt, glaub ich, Kumpel.«
    »Allerdings. Super. Vielen Dank.« Doch der Mann hatte schon auf dem Absatz kehrtgemacht und war verschwunden.
    |30| David fuhr Jenny und Lucy zum Flughafen und stand noch einen Moment mit ihnen am Bordstein inmitten der lärmenden Busse und Taxen.
    »David, versprich mir bitte, dass du bei der Suche nach Lucys Familie helfen wirst.«
    »Natürlich.«
    »Es muss irgendwen geben. Du wirst es tun, nicht wahr?«
    »Auf jeden Fall.« Und zu Lucy gewandt sagte er noch: »Du bist eine junge Lady mit sehr viel Glück.« Dann umarmte er Jenny zum Abschied, stieg wieder ins Auto und fuhr davon.
    Und fünfzehn Stunden später saßen Jenny und Lucy in Harry Prendervilles Auto, das sie zu Jennys efeubewachsenem Haus in einem ruhigen Vorort im Norden Chicagos brachte.

|31| 3
    Lucy sah zum Mond hinauf und dachte: Er sieht so blass und matt aus hier. Flach, nicht rund. Die Sterne und Planeten wirkten, als würden sie in dem Nebel ersticken, der von diesem neuen Ort aufstieg, an den es sie verschlagen hatte. Sie sah die ganze Nacht lang zu, wie der Nebel hochstieg. Am Morgen sah sie den Mond schwinden und hörte, wie Hunde anfingen zu bellen. Die Hunde machten ihr Angst.
    Als Jenny schlafen gegangen war, hatte Lucy das Fenster geöffnet, um Luft hereinzulassen. Sie zog ihre Kleider aus, legte sich aufs Bett und blickte durch die Baumäste in den Himmel hinauf. Als der Mond ins Blickfeld rückte, spürte sie Traurigkeit in sich aufsteigen und Heimweh überkam sie. Sie dachte an ihr Zuhause und daran, dass sie es wahrscheinlich nie wiedersehen würde. Wie sehr sie sich danach sehnte, die Aromen des Dschungels zu atmen, die Millionen Düfte von Blumen und Dung, von Wasser und Leben, von explodierendem Wachstum und ewiger Fäulnis. Sie wollte das wilde Kreischen, den Gesang des Urwalds wieder hören.
    Jenny war freundlich zu ihr, und Lucy wusste, dass sie sie nur beschützen wollte. Aber Lucy hatte das Gefühl, dass sie diesen neuen Ort nie verstehen würde. Sie wusste, dass sie dankbar sein sollte für alles, was sie hatte, dankbar dafür, am Leben zu sein. Jenny hätte sie für tot halten, sie im Dschungel zurücklassen können. Lucy versuchte Dankbarkeit zu empfinden, während sie dort lag, doch sie spürte nur Einsamkeit, Trauer und sogar Wut.
    |32| Die ersten Nächte hatte sie weinend im Bett gelegen und den entfernten Mond betrachtet. All das viele Licht, dachte sie. Im Urwald war es dunkel gewesen, doch hier leuchtete die Nacht wie ein phosphoreszierender Pilz. Sogar wenn der Mond sank, blieb immer noch ein Schimmern. Lucy wusste, dass sie nicht im Urwald hätte bleiben können. Die Soldaten wären zurückgekommen. Jenny hatte gesagt, dass sie sich an diesen Ort hier gewöhnen würde, doch da hatte Lucy wenig Hoffnung. Das Essen war seltsam. Das Wasser schmeckte schlecht. Und sie hasste die Kleidung. Wolken zogen über den Mond. Sie sog den Geruch der Luft ein und wusste, dass es heute Nacht nicht regnen würde. Gut, denn sie fürchtete sich vor einem weiteren Gewitter. Im Urwald hatte sie die Gewitter geliebt. Wenn eines niederging, hatten sie alle zusammen oben auf dem Bergrücken im zuckenden Blitzlicht und strömenden Regen getanzt. Sie dachte an Großpapa Dondi, wie er Äste abbrach und herumschwang, und an Faith und Viaje, die furchtsam in die Bäume flüchteten. Doch an diesem Ort hier wohnten die Leute viel zu dicht beieinander. Lucy fragte sich, was sie wohl sagen würden, wenn sie sie tanzen sähen.
    Sie schwang die Beine aus dem Bett und stand zitternd in der kalten Nachtluft da. Der Sommer war fast vorüber. Jenny sagte, dass es noch kälter werden würde, kälter, als sie es je erlebt hatte. Und sie sagte auch, dass Lucy nach England zurück und zur Schule gehen müsse. Lucy ging
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher