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Murray, Paul

Murray, Paul

Titel: Murray, Paul
Autoren: An Evening of Long Goodbyes
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waren sie schon draußen.
    Man könnte
vielleicht meinen, dass ich ein bisschen harsch gewesen sei, aber da Mutter im
Cedars war, hielt ich es für meine Pflicht, ein Auge auf meine Schwester zu
haben. Bel war einundzwanzig, drei Jahre jünger als ich, ein auffallend
hübsches Mädchen mit den blassblauen Augen meines Vaters, dem wie Herbstlaub
leuchtenden Haar meiner Mutter und einem Hang zum Leichtsinn, einer
verächtlichen Ungeduld mit ihrem eigenen Leben, die sie von keinem der beiden
hatte. Im Juni hatte sie das Trinity College beendet, mit einem ziemlich
wohlwollenden Abschluss in Schauspiel. »Bel und Schauspiel«, hatte Vater
gestöhnt, als er den Scheck unterschrieben hatte. »Das ist, als ob man Kohle
nach Newcastle schafft.« Ein nicht ganz faires Urteil. Bel neigte zwar zum
Melodramatischen und hatte auch einen scharfen Sinn für sie persönlich
betreffendes Unrecht, aber der extravagante Typ war sie eigentlich nicht.
Obwohl Schauspielern ihre Leidenschaft war, hatte sie es bei den
Collegeproduktionen immer vorgezogen, hinter den Kulissen zu arbeiten, am
Bühnenbild oder am Drehbuch, und wenn sie doch mal die Bühne betrat, dann wurde
ihre Rolle jedes Mal von ihrer eigenen Schüchternheit zugedeckt.
    Seit ihren
letzten Prüfungen wusste sie nichts mit sich anzufangen. Die Leere bedrückte
sie, das war klar. In den letzten Monaten hatte sie eine Serie männlicher
Begleiter durchlaufen, die selbst nach ihren eigenen willkürlichen Maßstäben
von zunehmend minderer Qualität waren. Den Rest der Zeit schloss sie sich in
ihrem Zimmer ein, hörte Dylan-Platten und blies den Rauch ihrer Joints aus dem
Fenster in die Abendluft.
    »Du hast
Ferien, amüsier dich«, riet ich ihr. »Entspann dich ein bisschen. Schau mich
an.«
    »Das sind
keine Ferien«, sagte sie. »Kommt mir eher vor wie das Fegefeuer. Ich sitz hier
mitten in der Pampa, bin abgeschnitten von allem und jedem und warte. Worauf,
weiß ich auch nicht. Ich hab kein Geld, ich bin ein Nichts, eine totale
Null...«
    »Du bist
erst einen Monat vom College weg, du machst eine Übergangsphase durch, das ist
alles. Ich versteh nicht, worüber du dir Sorgen machst.«
    »Ich mache
mir Sorgen, dass ich so werde wie du«, sagte sie und vertiefte sich mit einem
verzweifelten Seufzer wieder in die Zeitung, in die endlosen Stellenanzeigen
für Computerprogrammierjobs. Was ein Jammer war, der Sommer beglückte uns in
diesem Jahr mit herrlich sonnigen Tagen, und der Park präsentierte sich so
bezaubernd wie selten. Mutter war nicht da, also konnte ich nach Gusto
umherstreifen und den Grünton der Eichenblätter, die flauschigen Blüten der
Rosskastanie, die hoch aufragenden Ritterstern und Akelei bewundern. Es war
eine friedvolle Zeit, und im Gegensatz zu dem, was Bel gesagt hatte, fühlte ich
mich ungewöhnlich ausgeglichen. Obwohl mir natürlich von Zeit zu Zeit der
Gedanke kam, dass ein Gefährte für meine Streifzüge schon angenehm wäre - ein
Wolfshund vielleicht oder ein Setter, der schwanzwedelnd neben mir durchs Gras
tollte und sich zu meinen Füßen einrollte, während ich mich mit einem
erbaulichen Buch unter einem Baum niederließ.
    Nachdem Bel
und Frank gegangen waren, brauchte ich eine halbe Stunde, um die Kuhle, die
Frank auf der Chaiselongue hinterlassen hatte, aus dem Polster zu kneten. Mir
war nach Abendessen, aber weit und breit keine Mrs P. Als ich so am Fenster
stand und auf sie wartete, sah ich den Postboten, der betrunken den Weg zur
Haustür heraufschwankte. Einer der Nachteile unseres Hauses war seine Lage. Es
befand sich an der Küste, von einem Dorf namens Dalkey etwa zwei verschlungene
Landstraßenmeilen entfernt. Die Post sah sich nur selten imstande, ihren
Dienst zu versehen; an Regentagen oder an Tagen, an denen es nach Regen
aussah, oder an Tagen vor oder nach Regentagen konnte man sie vergessen. Aber
die letzten Tage waren relativ gnädig gewesen, sodass der Postbote, ein
weißhaariger Kauz von wenig vertrauenswürdigem Äußeren, offensichtlich
beschlossen hatte, es zu wagen. Ich öffnete die Tür, als er sich gerade mit
einem Packen Post zum Briefkasten hinunterbückte.
    »Morgen«,
sagte er. Die Schamlosigkeit dieser Lüge nahm mir den Wind aus den Segeln und
die Standpauke, die ich schon seit Tagen im Kopf hatte, gleich mit. Stattdessen
riss ich ihm die Briefe aus der Hand und knallte die Tür zu. Und er bummelte
flötend davon, quer über den Rasen, den zu betreten eigentlich nur den Pfauen
erlaubt ist.
    Ich
schaute die Briefe
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