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Mueller und die Tote in der Limmat

Mueller und die Tote in der Limmat

Titel: Mueller und die Tote in der Limmat
Autoren: Raphael Zehnder
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aufgewühlt und nach oben gedrückt. Der Fluss zeigte, dass es in der Stadt auch noch andere Farben als die des Geldes gab, und erlaubte sich bisweilen, das Stadtbild zu trüben. Stahl überquerte bei der Gessnerallee die Sihl und bog in die Militärstrasse ein. Allmählich kam er ins Schwitzen. Die Septembersonne brannte stärker, als er erwartet hatte. Er könnte seinen Trenchcoat ausziehen, aber dann müsste er ihn tragen.
    Hinter der Kaserne blieb er kurz stehen. Der Platz war bevölkert mit Wohnwagen, die ein Zelt mit der Aufschrift «Broadway» umzingelten. Artisten in knappen Höschen spielten Volleyball über eine gespannte Schnur und vertrieben sich die Zeit bis zur Nachmittagsvorstellung.
    Stahl setzte seinen Marsch fort und spürte in der Magengrube, wie sich etwas zu einem Kloss verdichtete. Er war sich nicht mehr so sicher, ob der «Schweizerhof» nicht doch die bessere Adresse gewesen wäre. Allmählich änderte sich das Strassenbild. Die ersten Afrikanerinnen mit gestellten Brüsten und hochhackigen Absätzen zwinkerten ihm zu, einige verkaterte Zuhälter diskutierten laut über die gestrige Niederlage des FC Zürich gegen Erzfeind Basel, und zwei Junkies wackelten auf Stahl zu, um sich von ihm mit einem devoten Lächeln eine Zigarette zu schnorren.
    Er griff in die Innentasche seines Trenchcoats und fingerte ein silbernes Etui hervor. Er liess es aufschnappen und streckte es den Jungs entgegen. Der eine nahm mit zittrigen Fingern gleich vier Kippen, die er mit seinem Kollegen teilte. Sie trotteten davon. Stahl ging die letzten Meter in Richtung Heimat und stand in der Langstrasse, direkt vor dem Hotel «Rothaus». Der rote Backstein lud ein, das Gewimmel auf der Strasse liess den bigotten Sonntag vergessen. Hier würde er sich wohlfühlen, redete er sich ein, und steuerte auf den Eingang zu.

    Um an die Rezeption zu gelangen, musste Stahl durch den Frühstücksraum, der eher wie eine dunkle Bierstube aussah.
    Die Frau an der Rezeption hatte den Gast bereits wahrgenommen, liess sich durch sein Auftreten aber nicht hetzen. Sie verglich Belege in einem Ordner mit Daten auf dem Bildschirm.
    «Einen Moment, bitte. Bin gleich da», sagte sie, und Stahl wurde jetzt richtig flau im Magen. Diese Stimme war Heimat. Rau wie ein angerostetes Reibeisen, und dennoch warm wie die Septembersonne. Unverhofft schweisstreibend.
    Er hatte nach ihr recherchiert, wollte wissen, was sie trieb, ob und wo sie lebte. Es war ein Leichtes gewesen, es herauszukriegen. Aber im Voraus hatte er lange mit sich gerungen, ob er es tun sollte. Jetzt stand er hier, vor ihr. Sie hatte ihn noch nicht erkannt. Ob er doch besser wieder umkehren sollte? Noch war Gelegenheit dazu.
    «Sie wünschen?», fragte Regula und lächelte ihn an, wie nur sie es konnte. Ein Lächeln, das entwaffnete. Immer und jederzeit. Solange sie diese Waffe noch besass, musste er sich um sie keine Sorgen machen.
    Das Lächeln fror ein, dafür weiteten sich ihre Augen. Lähmende Stille, die ein Jubelschrei zerschnitt: «Roger! Gopfridstutz. Das gibt’s doch nicht.» Regula kam hinter der Rezeption hervorgerannt und umarmte Stahl. Dann sah sie ihn wieder an, lachte und drückte ihm einen dicken Kuss auf den Mund. Sie löste sich von ihm, trat einen Schritt zurück, und Skepsis machte sich auf ihrem Gesicht breit. «Läss. Uu-läss gsesch us. Wie de Mister Bond persönlech. Besch of gheimer Mission? Oder wer hed di is Soho gscheckt? »
    «Wie geht’s dir?», fragte Stahl und wischte sich mit dem Ärmel den Schweiss von der Stirn.
    «Gut. Eigentlich ganz gut.»
    «Eigentlich?»
    «Na ja. Geldsorgen, Männer, das Übliche. Alltag eben.»
    Stahl nickte.
    «Weisst du überhaupt, was das ist: Alltag?», fragte Regula und schob angriffslustig den Kiefer nach vorne. «Dem wolltest du doch immer entkommen. Hast du es geschafft?»
    Stahl zuckte mit den Schultern. «Irgendwann wird auch das Nichtalltägliche zum Alltag. Wie die Sucht nach Freiheit ein Gefängnis ist.»
    «Trotzdem lieber frei als im Heim oder im Gefängnis. Oder?»
    Regula sah ihn an, und in ihren Blicken flackerten Bilder der Vergangenheit. Für Regula war Stahl nicht der Erste gewesen, aber sie hatte ihm gezeigt, wie man küsste und Sex ohne Bezahlung geniessen konnte. Zwei Jahre lang waren sie im Heim so etwas wie ein Paar gewesen. Eine richtige Beziehung zu leben, das hatte sie bis dahin niemand gelehrt, und sie waren jung und hatten sich vor Nähe gefürchtet. Stahl war zwei Jahre vor Regula aus dem Heim
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