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Mueller und die Tote in der Limmat

Mueller und die Tote in der Limmat

Titel: Mueller und die Tote in der Limmat
Autoren: Raphael Zehnder
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entlassen worden. Er hatte ihr versprochen, auf sie zu warten. Aber das Leben hatte beiden die Zeit nicht gegönnt. Für junge Menschen, die gelernt hatten, Versprechen zu brechen, war ein Liebesgelübde im Kampf um den nächsten Bissen Brot schnell vergessen.
    Sie waren sich noch einmal begegnet, vor zehn Jahren. Stahl war bereits in Rom und war nur für eine Stippvisite nach Zürich gekommen. Es war Zufall gewesen, dass sie sich über den Weg gelaufen waren. Sommerkino am Helvetiaplatz. Ausgerechnet «Rocco und seine Brüder» hatten sie sich angesehen. Danach waren sie wieder im Bett gelandet. Eine Abschiedsnummer auf vergangene Zeiten. Sie hatten sich versprochen, sich nie wieder zu begegnen. Jeder sollte von nun an seinen eigenen Weg gehen. Und jetzt stand Stahl vor ihr. Wieder hatte er ein Versprechen nicht gehalten. Und wieder nahm es ihm Regula nicht übel.
    «Brauchst du etwa ein Zimmer?», fragte Regula.
    «Für drei Tage.»
    «Siehst aus, als könntest du dir etwas Besseres leisten.»
    «Hab’s versucht. Aber ich fühl mich dort zu allein.»
    «Scheissstallgeruch, was? Irgendwie kommt man nie davon los. Willst du deinen Alten besuchen?»
    Stahl schüttelte den Kopf.
    «Meiner ist vor zwei Jahren gestorben. Komisches Gefühl. Ich war tatsächlich auf der Beerdigung. Dabei hatte ich mir geschworen, das niemals zu tun. Aber ich war es meinem Sohn schuldig.»
    «Du hast einen Sohn?»
    «Richy. Er ist fünf.»
    «Und der Vater?»
    Regula lachte. Es war ein Überlebenslachen. «Huere Siech. Mängmol isch es halt wie emmer. Endlosschlaufe.»
    Stahl hob fragend die Brauen. Er verstand nicht.
    Regula biss sich auf die Unterlippe, dann verzog sie die Lippen wie ein Clown und sagte: «Jamaikaner. Sitzt seit einem Jahr.»
    «Drogen?»
    «Was sonst.»
    «Wie steht es mit dir? Bist du sauber?»
    «Vom Heroin bin ich schon lange weg. Manchmal ein wenig Koks, damit ich weiss, dass ich der Boss der Langstrasse bin.» Sie presste die Lippen zusammen und hob die Brauen.
    «Und wer ist sonst der Boss der Langstrasse?»
    «Ist derzeit nicht ganz klar. Dein Alter jedenfalls nicht mehr. Der hat Gnadenfrist. Vielleicht solltest du ihn doch mal besuchen. Die Alten gehören nun mal zu einem, ob man will oder nicht.»
    Stahl sah sie an. Sie hatte ihr rotes Haar noch nicht nachgefärbt. Es glänzte so feurig wie einst. Ihre hellgrünen Augen strahlten aus dem Sommersprossengesicht, das auch im Hochsommer keine Bräune annahm. Ihre vollen Lippen schürzten sich, als warteten sie auf einen Kuss, und das selbst gestochene Tattoo, das sich aus ihrem Dekolleté räkelte und auf dem Stahl manche Nacht geschlafen hatte, hob sich mit jedem Atemzug.
    «Zimmer 301 wäre frei. Hundertneunundzwanzig Franken pro Nacht. Bezahlung im Voraus», sagte Regula.
    «Internet?»
    «Drei Franken zusätzlich. Gilt aber die ganze Woche.»
    «In Ordnung.» Stahl bezahlte mit Karte und füllte den Meldeschein aus.
    «Im Lift drückst du auf die Vier. Dann musst du eine Stiege hinunter, um auf die Dreihunderter zu kommen.»
    Regula reichte ihm den elektronischen Schlüssel und berührte ihn leicht.
    «Schön, dich zu sehen.»
    «Vielleicht könnten wir ja mal –»
    «Besser nicht.»

    Palm sah sich um. Viel war nicht los. So ein Renner, wie Stahl angepriesen hatte, schien der Mittagstisch hier nicht zu sein. Die «Kronenhalle» an der Rämistrasse wäre ihm lieber gewesen. Nicht nur, weil er dort unverbindlich Geschäftsleute treffen konnte und dabei mitbekam, was gerade so lief; auch das Geschnetzelte war sensationell. Alles stimmte, Preis-Leistung ohne Risiko. Das liebte Palm. Für diese Kategorien war er zuständig, damit kannte er sich aus. Die Risiken sollten andere eingehen. Seine Aufgabe war, davon zu profitieren oder rasch Abstand zu nehmen. Nur solange er dieses Gespür hatte, begehrten ihn seine Kunden. Und sein Gespür verriet ihm, dass dieser Laden eher Verdruss als Genuss bringen würde. Schon der Name: «Krummes Kreuz». «An seinem Namen sollst du ihn erkennen», murmelte Palm. «Kronenhalle», das klang nach grossem Orchester. Palm assoziierte mit «Krummes Kreuz» sofort einen geschundenen Jesus, dem sich das Kreuz unter dem Kreuz bog, während er es über den Leidensweg schleppte. Palm spürte umgehend ein Ziehen bei der Wirbelsäule in der Lendengegend. Die Bandscheiben zwischen L3 und L5 waren ihm erst vor einem Jahr herausgesprungen. Schmerzen, die er nie mehr vergass, und die ihn bei jedem Erwachen daran ermahnten, seine Morgen-Gymnastik
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