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Mucksmäuschentot

Mucksmäuschentot

Titel: Mucksmäuschentot
Autoren: Gordon Reece
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war, obwohl er angeblich vor kurzem noch gelaufen war?
    Obwohl ich fast immer mit dem Schlimmsten rechnete, machte ich mir diesmal keine wirklichen Sorgen. Ich konnte einfach nicht glauben, dass die Sanitäterinnen etwas Verdächtiges an der Leiche bemerken würden. Der fette Mann hatte einen schweren Herzinfarkt erlitten; er war mausetot gewesen, als sie eintrafen. Sicher würden sie der Sache nicht weiter auf den Grund gehen, oder? Ich konnte einfach nicht glauben, dass bloße fünfundvierzig Minuten von Bedeutung sein könnten. Wir waren in Sicherheit – ganz bestimmt, wir waren in Sicherheit …
    Als ich wieder nach draußen ging, setzten die Sanitäterinnen gerade eine Trage zusammen. Der aknegeplagte Junge ging zu Mum hinüber.
    »Möchten Sie mit uns ins Krankenhaus fahren, oder nehmen Sie Ihren eigenen Wagen?«
    Mit der Frage erwischte er Mum auf dem falschen Fuß. Auf gar keinen Fall wollte sie diese Farce weiterspielen, womöglich stundenlang.
    »Aber ich kenne ihn doch gar nicht«, sagte sie freundlich. »Ich habe Ihren Kolleginnen bereits erklärt, dass er einfach mit seinem Auto angehalten hat und dann zusammengebrochen ist.«
    Der junge Mann schien wiederum verblüfft von ihrer Antwort. Einen Moment lang fehlten ihm die Worte, als hätte sich noch nie jemand geweigert, mit ihnen ins Krankenhaus zu fahren. »Okay«, sagte er und drehte sein dickes, tropfenförmiges Ohrläppchen, während er seine Fassungslosigkeit hinter einem Lächeln zu verbergen suchte.
    Mum verspürte wohl das Bedürfnis, ihre Haltung näher zu erklären, damit man sie nicht der Herzlosigkeit verdächtigte. »Ich habe ihn noch nie im Leben gesehen. Er ist ein völlig Fremder.«
    Der junge Mann nickte, wirkte aber immer noch nicht richtig überzeugt und ein wenig entsetzt.
    Die Sanitäterinnen trugen den fetten Mann in den Krankenwagen und setzten ihre Bemühungen unermüdlich fort. Die Blondierte hatte eine Sauerstoffmaske über seinen Mund gestülpt und tastete mit zwei Fingern nach seinem Puls, während Hamsterbäckchen die Arterie abband und sich anschickte, einen Tropf zu legen.
    Der schlaksige Junge kehrte zum Krankenwagen zurück und schloss eine Hintertür. Er wollte die andere auch zumachen, als die Blondierte plötzlich aufschrie, als hätte sie sich weh getan. Er hielt inne, als fürchtete er, ihr den Finger eingeklemmt zu haben, und spähte ins Wageninnere.
    Ich wollte wissen, was da vorging, aber sein Rücken verdeckte mir die Sicht. Dann schrie die Blondierte erneut auf – vorbei war es mit ihrer professionellen Ruhe, sie wurde gepackt von einer unkontrollierbaren, wilden Erregung – »Ich habe einen Puls! Ich habe einen Puls! Da ist ein Puls!«
    Mum und ich standen nebeneinander und sahen zu, wie der Krankenwagen mit ohrenbetäubendem Sirenengeheul durch die Einfahrt schoss und riesige blaue Spiralen in die Luft malte. Wir standen noch lange da, als er schon verschwunden war, sprachlos und wie erstarrt.
    Als Mum sich endlich zur Tür wandte, sah sie die Brille des Erpressers, die noch auf dem Kies lag. Die Sanitäterinnen hatten sie nicht bemerkt oder in der Aufregung vergessen. Sie bückte sich, hob sie auf und betrachtete sie. Ein Symbol ihres sorgfältig zurechtgelegten Plans, der so furchtbar schiefgelaufen war.
    Ein finsterer Blick huschte über ihr Gesicht, und ich rechnete schon damit, dass sie die Brille gegen die Wand schmettern würde, doch ihr Zorn verflog. Sie klappte den Bügel sanft ein, als wäre es der gebrochene Flügel eines Vogels.

44
    Mum und ich saßen wie betäubt im Wohnzimmer, als hätten wir soeben einen Bombenangriff überstanden und könnten nicht sprechen oder einander hören, weil unsere Trommelfelle geplatzt waren.
    Wir hockten zusammengesunken auf dem Sofa und konnten nicht verarbeiten, was soeben geschehen war
(Ich habe einen Puls! Ich habe einen Puls! Da ist ein Puls!)
. Es schien undenkbar, dass die Sanitäterinnen den fetten Mann nach so langer Zeit reanimiert haben sollten. Wir waren
so nahe
am Happy End gewesen, so kurz vor einer brillanten Lösung, die alles wunderbar geregelt hätte – und dann riss man sie uns in letzter Sekunde vor der Nase weg.
    Wie gelähmt starrte ich auf den bunt gemusterten Teppich unter dem Klavier und schüttelte ungläubig den Kopf. Wir glauben, wir hätten unser Leben im Griff, wir wären der Kapitän des Schiffes, der die Hand am Steuer hat, doch in Wahrheit hat uns das Glück im Griff (oder das Schicksal oder die Vorherbestimmung oder Gott
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