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Mucksmäuschentot

Mucksmäuschentot

Titel: Mucksmäuschentot
Autoren: Gordon Reece
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der Nähe seiner Leiche war oder nicht, Paul Hannigan würde mich immer begleiten. Mehr noch, er schien ein Teil von mir geworden zu sein wie bei den Eingeborenen, die ich im Fernsehen gesehen hatte und die glaubten, dass von ihnen getötete Wildschweine oder Affen ein Teil von ihnen wurden. Ich konnte ihm nicht entfliehen, nicht davonlaufen. Paul Hannigan gehörte zu mir. So oder so.
    Die surreale Szene brachte mich auf ein Bild, das ich irgendwann gern malen würde: Zwei elegante viktorianische Damen, die auf dem Rasen Tee trinken, während im Blumenbeet hinter ihnen eine grünliche Leiche in Totenkleidung zu erkennen ist. Ich würde es
Mitten im Leben sind wir vom Tod umgeben
nennen. Seine Botschaft würde lauten, dass, egal wo wir sind oder was wir tun, Tod und Schrecken immer in der Nähe lauern. Die Herausforderung besteht darin, zu leben und glücklich zu sein, obwohl wir sie immer aus dem Augenwinkel erkennen können, verschwommen, aber dennoch sichtbar.
    Wir dösten und plauderten träge, und als der ganze Garten in violett-blaue Schatten getaucht war, berührte ich Mum vorsichtig an der Schulter.
    »Mm?« Sie lächelte schläfrig, ohne die Augen zu öffnen.
    »Ich möchte wieder in die Schule, Mum.«
    Jetzt sah sie mich an, und ich las Überraschung und Sorge in ihrem Blick. Die tiefe Furche war auf ihre Stirn zurückgekehrt. »Aber es sind nur noch ein paar Wochen bis zu den Prüfungen, Shelley. Du hast doch das ganze Schuljahr frei bekommen.«
    »Ja, aber es gibt einige Wiederholungskurse, die ich besuchen möchte. Mrs Harris weiß darüber Bescheid, und ich würde vor den Prüfungen gern noch mit einigen Lehrern sprechen – vor allem mit Miss Briggs.«
    Ihre eigentliche Sorge hatte Mum bis jetzt nicht geäußert. »Was ist mit den Mädchen – Teresa Watson und den beiden anderen? Wenn sie noch da sind?«
    »Das kann ich mir nicht vorstellen, Mum. Außerdem werden sie sich nicht sonderlich für Wiederholungskurse interessieren, und falls ich sie doch sehe …«
    Ich erinnerte mich daran, wie ich das Messer vom Esstisch genommen und Paul Hannigan in den Rücken gestoßen hatte; ich erinnerte mich daran, wie ich den fetten Mann mit Blutdurst im Herzen durch die Einfahrt gejagt hatte. Falls Teresa Watson mich auch nur anrührte, würde ich sie gegen die Wand schmettern und ihr die Kehle zudrücken. Wenn sie mir in die Augen sah und erkannte, wozu ich fähig war, würde sie die Flucht ergreifen. Ich hatte zwei Männer getötet; vor Schulmädchen hatte ich keine Angst mehr.
    »Keine Sorge. Sie werden mir nichts tun. Ich habe keine Angst mehr vor ihnen. Wenn überhaupt, sollten sie Angst
vor mir
haben.«
    Ich hatte die Worte ausgesprochen, doch sie klangen so fremd, als kämen sie von jemand anderem. Da sprach keine Maus mehr; ich würde nicht mehr an den Fußleisten entlanghuschen, um mir ein sicheres Versteck zu suchen, ich würde nicht mehr still sein und hoffen, dass man mich nicht bemerkte. Ich fühlte mich stärker, selbstsicherer und
fähiger
als je zuvor. Das Leben war brutal. Das Leben war wild. Das Leben war ein Krieg. Das hatte ich jetzt begriffen. Akzeptiert. Und ich sagte:
Nur her damit.
Ich würde kein Opfer mehr sein. Nie wieder.
    »Da wäre noch etwas, Mum. Ich möchte Dad anrufen.«
    Ihr Arm zuckte, als hätte etwas sie gestochen; sie biss die Zähne aufeinander.
    »Nun, das ist deine Entscheidung«, sagte sie mit zitternder Stimme. »Ich werde dich nicht davon abhalten.«
    Nein, sie würde mich nicht davon abhalten, und auch Zoe nicht. Falls Zoe ans Telefon ging, würde ich mich nicht abwimmeln lassen (»Sagen Sie ihm, es ist seine
Tochter
.«). So leicht würde er mich nicht los. Nicht ohne Erklärung. Nicht ohne Abrechnung.
Nicht ohne sich anzuhören, was ich zu sagen hatte.
    Mum strich mir das Haar hinters Ohr und legte mir die Hand in den Nacken.
    »Die Narben verheilen sehr gut«, sagte sie.
    »Ich weiß. Noch ein paar Monate, und man kann sie kaum noch sehen.«
    Sie streichelte mir sanft über die Wange und lächelte. »Dann bist du so gut wie neu.«
    »Nein«, schnurrte ich.
»Sogar besser.«

Über Gordon Reece
    Gordon Reece hat als Autor und Illustrator über fünfzehn Kinder- und Jugendbücher veröffentlicht und schreibt als großer Comicfan auch Graphic Novels. Er studierte Englische Literatur in Oxford und arbeitete als Lehrer, später als Rechtsanwalt, bevor er beschloss, sich ganz dem Schreiben und Zeichnen zu widmen. Nach einigen Jahren in Spanien und Australien lebt er
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