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2312

2312

Titel: 2312
Autoren: Kim Stanley Robinson
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Prolog
    E s ist immer kurz vor Sonnenaufgang. Der Merkur dreht sich so langsam, dass man der Dämmerung voraus bleiben kann, wenn man schnell genug über die steinige Oberfläche geht. Und viele tun genau das. Viele haben es zu ihrer Lebensweise gemacht. Sie gehen in grob westlicher Richtung, immer vor dem überwältigenden Tagesanbruch her. Manche hasten von Ort zu Ort, um die angesammelten Gold-, Wolfram- oder Uranrückstände aus Felsspalten zu kratzen, in denen sie zuvor Biolauge absondernde Metallophyten ausgebracht haben. Doch die meisten sind dort draußen, um einen Blick auf die Sonne zu erhaschen.
    Das uralte Gesicht Merkurs ist derart ramponiert und zerklüftet, dass der Terminator des Planeten, der Bereich der Dämmerung, wie ein breites, schwarz-weißes Schattengemälde wirkt – kohlschwarze Furchen und Senken, aus denen hier und dort weiße Glanzflecken hervorstechen, die immer größer werden, bis das Land schließlich hell wie geschmolzenes Glas glänzt und der lange Tag beginnt. Dieser Bereich, in dem sich Sonne und Schatten mischen, ist oft bis zu dreißig Kilometer breit, obwohl der Horizont auf einer flachen Ebene nur ein paar Kilometer entfernt liegen würde. Aber auf dem Merkur gibt es praktisch keine flachen Ebenen. All die alten Krater sind noch da, auch einige langgezogene Klippen, die noch aus der Abkühl- und Schrumpfungsphase des Planeten stammen. In einer derart zerklüfteten Landschaft kann das Licht mitunter weit über den östlichen Horizont hinaus nach Westen fallen, wenn es dort auf eine emporragende Landmarke trifft. Jeder, der diese Welt bereist, muss darauf gefasst sein, muss wissen, wann und wo das Sonnenlicht seine Finger am weitesten streckt – und wo man Schatten suchen kann, wenn es einen im Freien erwischt.
    Oder wenn man absichtlich auf die Sonne wartet. Denn viele Wanderer auf dem Merkur halten bei bestimmten Klippen und Kraterrändern inne, an Stellen, die von Stupas, Steinmalen, Petroglyphen, Inuksuit, Spiegeln, Mauern und Goldsworthys markiert werden. Neben diesen Wegmarken stellen die Sonnenläufer sich mit dem Gesicht nach Westen auf und warten.
    Der Horizont, den sie betrachten, besteht aus schwarzem Raum über schwarzem Fels. Die extrem dünne Neon-Argon-Atmosphäre, die vom auf den Fels knallenden Sonnenlicht erzeugt wird, fängt nur einen ganz leisen Vorschein der Dämmerung ein. Doch die Sonnenläufer kennen den richtigen Zeitpunkt, also warten sie und schauen zu … bis …
    … ein orangefarbenes Flackern wie ein Delfin über den Horizont springt und das Blut in ihren Adern schneller fließt. Dann flattern weitere bunte Banner, lecken empor, bilden Bögen und Schleifen, lösen sich von der Oberfläche und schweben frei in den Himmel empor. Gleich, oh, gleich wird der Stern über sie hereinbrechen! Ihre Visiere haben sich bereits verdunkelt und polarisiert, um ihre Augen zu schützen.
    Immer mehr der orangefarbenen Banner leuchten auf, als würde ein Feuer am Horizont sich nach Norden und Süden ausbreiten. Dann erscheint ein Stück der Photosphäre, die eigentliche Oberfläche der Sonne, zunächst zögerlich flackernd, wird dann breiter und rinnt nord- und südwärts. Je nachdem, welche Filter man für sein Helmvisier benutzt, kann das Gestirn wie ein blauer Mahlstrom, wie eine orangefarbene, pulsierende Masse oder auch einfach nur wie ein weißer Kreis aussehen. Immer weiter verbreitert sich die Sonne, über jedes normale Maß hinaus, bis einem sehr deutlich wird, dass man ganz nahe bei einem Stern auf einem winzigen Kieselstein steht.
    Zeit, sich umzudrehen und zu laufen! Wenn es den Sonnenläufern schließlich gelingt, sich loszureißen, taumeln sie benommen, stolpern und stürzen, nur um wieder aufzustehen und in ungekannter Panik nach Westen davonzurennen.
    Aber vorher – ein letzter Blick auf den Sonnenaufgang des Merkur. Im Ultraviolettbereich sieht er aus wie ein anhaltendes, immer heißer werdendes blaues Fauchen. Blendet man die Scheibe der Photosphäre aus, tritt das fantastische Wirbeln der Korona deutlich hervor, all die magnetisch geladenen Lichtbögen und Entladungen, die Massen brennenden Wasserstoffs, die in die Nacht herausgeschleudert werden.
    Andererseits kann man auch die Korona abdunkeln und nur die Photosphäre der Sonne betrachten. Man kann sie sogar vergrößern, bis man in der wabernden Glut die Gipfel der Tausenden von Konvektionszellen erkennt, jede einzelne eine feurig tosende Gewitterwolke. Zusammen verbrennen sie fünf Millionen
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