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Mucksmäuschentot

Mucksmäuschentot

Titel: Mucksmäuschentot
Autoren: Gordon Reece
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oder wie immer wir es nennen wollen). Wir könnten ebenso gut die Hände vom Steuer nehmen und uns im Heck des Schiffes schlafen legen, denn es ist diese
andere Kraft
, die wirklich darüber entscheidet, ob wir ans Ufer gelangen oder spurlos versinken. Wir
glauben
, wir könnten alles beherrschen, doch das stimmt nicht.
    Wie hatten sie den Erpresser nach so langer Zeit wiederbeleben können? Es war unmöglich, verstieß gegen jede Logik und den gesunden Menschenverstand. Doch diese andere Kraft hatte entschieden, dass es so geschehen sollte, und so war es geschehen, Schluss, aus.
    Mum war untröstlich. Sie hatte sich so beeilt, um die zeitliche Kluft zwischen dem »Tod« und dem Eintreffen der Sanitäterinnen möglichst gering zu halten. Auf die Idee, dass ihnen gerade das eine Wiederbelebung ermöglichen würde, war sie gar nicht gekommen.
    Sie blätterte wie wild in den wenigen medizinischen Werken, die wir im Haus hatten – einem medizinischen Wörterbuch, einem Nachschlagewerk für Anwälte und einem Strafrechtsband mit dem Titel
Forensische Beweismittel
. Darin fand sie endlich eine interessante Passage. Danach war die Wiederbelebung in einem Zeitraum von bis zu einer Stunde zwar möglich, doch das Opfer würde mit größter Sicherheit einen schweren Hirnschaden davontragen und nicht mehr denken oder sprechen können. Das machte ihr ein wenig Mut, doch bald verfiel sie wieder in Selbstvorwürfe und tiefste Niedergeschlagenheit.
    Als sie die Qual nicht länger ertragen konnte, rief sie im örtlichen Krankenhaus an, gab sich wieder als besorgte Hausbesitzerin aus und erzählte ihre Geschichte noch einmal.
Wir waren heute Morgen zu Hause, als plötzlich ein fremdes Auto in unsere Einfahrt bog und ein Mann ausstieg, der seine Brust umklammert hielt …
Man stellte sie von einer Abteilung in die nächste durch, und sie musste ihre Geschichte dreimal geduldig wiederholen. Nein, sie wisse den Namen des Patienten nicht. Nein, sie wisse nicht, auf welcher Station er liege. Nein, sie sei nicht mit ihm verwandt. Es dauerte fast eine Viertelstunde, bis sie erfuhr, dass an diesem Morgen kein Patient, auf den die Beschreibung zutraf, eingeliefert worden war.
    Als sie schließlich auflegte, war Mum so angespannt, dass sie kein weiteres Krankenhaus mehr anrufen konnte.
     
    Erst am späten Nachmittag wurden wir endlich von unseren Qualen erlöst.
    Der Streifenwagen, mit dem ich so lange gerechnet hatte und der unsere bevorstehende Verhaftung ankündigte, bog um kurz vor sechs in unsere Einfahrt.
    Anders als in meinen Vorahnungen hatte er jedoch kein Blaulicht eingeschaltet, und das Klopfen an der Tür klang zaghaft, beinahe entschuldigend. Wir sahen uns auch keinen Kleiderschränken in schwarzen Uniformen gegenüber, die knisternde Funkgeräte in der Hand hielten. Stattdessen stand ein junger Beamter in einem kurzärmeligen weißen Hemd vor der Tür, die Schirmmütze in der Hand, weil es zu heiß dafür war. Er sah aus wie ein Renaissance-Engel – blaue Augen, rosige Wangen und blonde Locken, die ihm bis zum Kragen reichten und sicher länger waren, als die Vorschriften es erlaubten. Mein erster Gedanke war:
Er kann nicht hier sein, um uns zu verhaften. Sie hätten keinen Engel geschickt, um eine so furchtbare Nachricht zu überbringen …
    »Mrs Rivers?«, fragte er ernst.
    Mum nickte nur, als würde sie ihrer eigenen Stimme nicht trauen, und führte ihn ins Wohnzimmer. Die Atmosphäre war schwer und beklemmend, als watete man durchs Wasser. Wir setzten uns. Der Polizist holte ein kleines Notizbuch und einen winzigen eidechsengrünen Stift aus der Brusttasche. Er blätterte herum und suchte nach einer bestimmten Seite.
(Stand vielleicht die Formel darin, die sie jedes Mal aufsagen mussten, wenn sie jemanden verhafteten? »Alles, was Sie sagen, kann gegen Sie verwendet werden.« Musste er sie ablesen, weil er sie nicht auswendig kannte?)
    Wir warteten schweigend, und ich hatte das seltsame Gefühl, als hätte sich die Zeit verlangsamt und würde jeden Augenblick stillstehen. Ich sah alles um mich herum wie in Zeitlupe: den jungen Polizisten, der konzentriert in seinem Notizbuch blätterte, die Zungenspitze zwischen den Lippen; Mum auf der Stuhlkante, die Stirn tief gerunzelt, die Hände ans Gesicht gedrückt wie die Gestalt auf Munchs Bild
Der Schrei
.
    Die nächsten Sekunden würden das Urteil bringen. Der fette Mann lebte, hatte der Polizei alles gesagt, und wir würden verhaftet; oder aber der fette Mann war tot, und
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