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Mr. Lamb

Mr. Lamb

Titel: Mr. Lamb
Autoren: Bonnie Nadzam
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klingt. Außerdem finde ich, dass sie außergewöhnlich aussehen. Bezaubernd. Und weißt du noch was?«
    »Was?«
    »Mit Sommersprossen kenne ich mich aus.«
    Sie lächelte. »Klingt wie ein dummer Spruch von meiner Mom.«
    »Sieh mich an. Ich bin alles Mögliche, aber ich bin kein Lügner, okay?«
    »Okay.«
    »Es gibt viel zu wenig Wahrheit in der Welt, und ich bin einer ihrer entschiedenen Fürsprecher. Okay?«
    »Okay.«
    Er schloss die Augen und ließ den Kopf nach hinten fallen. »Ich glaube«, sagte er, »unter diesen Straßen gibt es noch Leben.« Das Mädchen sagte nichts. Er sah sie an. »Deine Freundinnen haben Angst, weißt du. Sie sind ängstlich und dumm.«
    Sie zuckte mit den Schultern. »Sind nicht mehr meine Freundinnen.«
    »Waren es gute Freundinnen?«
    »Eigentlich schon.«
    »Kennst du sie schon lange? Seit ihr klein wart? Wohnst du schon immer in dieser Gegend?«
    Das Mädchen nickte.
    »Das tut mir richtig leid.« Er sah sie an. »Sieh einer das Gesicht«, sagte er. »Hinter deinem Kopf sollte eine Reihe zerklüfteter Berggipfel zu sehen sein. Ein Mädchen wie du braucht einen See, in dem es schwimmen kann. Einen Fluss. Bäume und einen klaren Himmel. Bist du mal Angeln gewesen? Oder Zelten? Jagen?«
    »Mit wem?«
    »Egal mit wem?«
    »Nein.«
    »Deine Mutter kauft das Fleisch im Supermarkt?«
    »Hmmh.«
    »Auf kleinen weißen Styropor-Tabletts?«
    »Hmmh.«
    »Sag nicht immer Hmmh. Sag Ja.«
    »Ja.«
    »Hast du noch nie ein Tier zu Boden gerungen, ihm das Herz rausgeschnitten und es im Dunkeln beim Lagerfeuer verspeist?«
    Das Mädchen lächelte schwach.
    »Warst du mal zelten?«
    »Mit draußen schlafen?«
    »Mit draußen schlafen.«
    »Nein.«
    »Was ist mit deinem Vater?«
    »Gute Frage.«
    »Irgendwelche Onkel?«
    »Nein.«
    »Ich überlege, ob ich nicht eine kleine Campingreise machen sollte.«
    »Oh.«
    »Hast du deiner Mutter von gestern erzählt?«
    »Natürlich nicht.«
    »Du glaubst, sie würde ausrasten?«
    »Keine Ahnung, was sie machen würde.«
    »Du hast nichts erzählt, weil es dir peinlich war. Ist das der Grund?«
    Das Mädchen zuckte mit den Schultern. Ein Bus näherte sich der Haltestelle und kam mit zischenden, quietschenden Bremsen zum Stehen. Das Mädchen wich zurück. Die automatischen Türen öffneten sich. Niemand stieg ein oder aus. Die Türen schlossen sich wieder, und der Bus fuhr davon. »Wie heißen Sie eigentlich?«
    Er sah sie an. »Gary.«
    »Zum Glück nicht Tom.«
    »Das wäre zu komisch.«
    »Dann könnten wir nicht Freunde sein.«
    Er sah auf die Uhr. »Hör mal. Ich muss wieder zur Arbeit. Möchtest du zu Mittag essen, und dann bringe ich dich nach Hause?«
    »Gestern haben Sie gesagt, ich soll keine Fremden ansprechen.«
    »Aber du hast es getan.«
    »Oh.«
    »Du hast einen ganz schönen Dickkopf, stimmt’s?«
    »Hmmh«, sagte sie. »Ja.«
    »Weißt du was? Du bist praktisch der einzige Mensch, den ich kenne.«
    Sie zog die Nase kraus. »Wie meinen Sie das?«
    »Komm jetzt«, sagte er. »Diesmal zerre ich dich nicht mit. Du kommst aus freien Stücken. Ich lade dich zum Lunch ein. Als Wiedergutmachung dafür, dass ich dir Angst gemacht habe.«
    »Sie haben mir keine Angst gemacht.«
    »Oh, doch.«
    »Es war ziemlich dumm.«
    »Von dir oder von mir?«
    »Von uns beiden.«
    »Kluges Mädchen.«
    »Sie bringen mich nicht wieder zur Schule, oder?«
    »Nicht, wenn du nicht dahin willst.«
    »Nur Lunch, dann nach Hause?«
    »Lunch und nach Hause. Wir gehen zu einem Drive-in. Du kannst aussuchen.«
    »Wirklich?«
    »Komm.« Das Mädchen stand auf. »Langsam lernen wir uns ein bisschen kennen, nicht?«
    Bei dem Drive-in fühlte er sich noch schlechter. Es lag an dem billigen Essen, es war so ungesund. Er fragte sich, wie lange dasFleisch in ihrem Sandwich wohl schon tot war oder ob jemand hinter der Theke draufgespuckt hatte oder es, ohne sich die Hände gewaschen zu haben, in das Brot gelegt hatte, und wo die Hühner gezüchtet und getötet worden waren, und von wem, und was derjenige dafür bekommen hatte. Das Mädchen konnte nicht ahnen, was ihr entging, in welchem Maße sie betrogen wurde, von einer Welt, die ohne sie lief. Sie brauchte etwas anderes in ihrem Leben, das ihr die Richtung wies. Nicht das hier. Jemand, der – wie es der Zufall wollte – sowohl die Neigung als auch die Mittel dazu hatte. Es war nichts Edles oder Großartiges. Er wollte ihr nur ein paar kleine Dinge ermöglichen, ihr irgendwann ein anständiges Essen vorsetzen. »Mit einem Glas
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