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Mr. Lamb

Mr. Lamb

Titel: Mr. Lamb
Autoren: Bonnie Nadzam
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»Ich könnte mir irgendeine Geschichte für sie ausdenken«, sagte sie.
    Er dachte nach. Überlegte, was für Geschichten das sein könnten. Er betrachtete ihre nackten Arme und Beine, das mit Heftklammern zusammengehaltene Oberteil, das über ihre schmale Brust rutschte. »Sag, ich wäre mit dir einkaufen gefahren.«
    »Ja, das ist gut.«
    »Okay. Dann also.«
    »Okay. Wiedersehen.«
    Sie sahen sich einen Moment lang an, dann trat sie zurück und schlug die Tür zu. Sie drehte sich um und ging zum Haus. Ein Schlüsselkind. Eins, das in der Schule Ausreichend bekommt. Kein hübsches Kind, kein sportliches Kind, kein kluges Kind. Einfach nur ein mageres Kind, das sich spät entwickelte und unbedingt mit ihren Freundinnen mithalten wollte. Und schnell Freundschaften schloss. Dumm. Vielleicht hatte sie bei diesem Erlebnis etwas gelernt. Vielleicht hatte er ihr einen Gefallen getan. Was machte es schon? Bei einer wie ihr.
    * * *
    Das war keine Entführung. Er hatte ihr einen Gefallen getan, oder? Hatte ihr etwas beigebracht. Er hatte niemanden entführt. Sie war wieder zu Hause, in ihrer Wohnung, und saß mit ihren Eltern beim Abendessen, und ihre Freundinnen waren vielleicht etwas gedämpft nach ihrem draufgängerischen Verhalten, mit dem sie sich gegenseitig angestachelt hatten, da draußen auf dem Parkplatz. Es war keine Entführung, wenn das Mädchen am Ende sicher zu Hause war und dabei noch etwas gelernt hatte. Es war, als hätte er draußen in der Welt eine Schraube gefunden, die locker saß, und sie wieder sorgfältig festgezogen. Das war in Ordnung.
    Jetzt war es sechs. Er war wieder im Residence Inn. In dem Zimmer gegenüber war ein Mann genau wie er. Ihrer beider prächtige Häuser zum Verkauf. Ihrer beider alternde Frauen wieder auf dem Markt. Er und der andere Typ – sie hatten sogar den gleichen Haarschnitt, und den gleichen Bauch, der sich gerade über den gleichen schicken Ledergürtel zu wölben begann. Warum sah er überall, wohin er blickte, eine unvollständige Version seiner selbst? Was sollte er tun? Den Fremden auf der anderen Seite des Flurs vervollständigen? Warum war alles so rätselhaft?
    Eigentlich sollte er Linnie anrufen, mit ihr am See entlang nach Norden fahren, sie zu Spaghetti und Rippchen einladen. Einen Spaziergang mit ihr machen, bis sie den Biss der Oktoberkälte spürten, die übers Wasser kam, Linnies Augen von einem unwirklichen Grün in der Dunkelheit. Ein System von Reaktionen und Antworten aus einer teuren Welt mit teuren Schulen, und er kannte sie alle. Kannte sie schon, um ehrlich zu sein, seit einer Zeit, als Linnie noch nicht geboren war.
    Er war noch feucht vom Duschen und saß, das Handtuch umgeschlungen, auf der Bettkante. Draußen rauschte der Verkehr, das Licht schwand. Es gab Zimmerservice: Cäsar-Salat,Lachssteak, Spinatomelett; in der Nähe gab es ein Steakhouse mit Lieferservice; in der Straße gab es ein französisches Café, das leer sein würde – er könnte einen Tisch für sich haben und ungestört sein. Oder er könnte jemanden finden, der ihn stören würde. Er atmete flach, in seinen Gedanken eine rasche Folge von warmen Gerichten, die durchscheinenden Hände seines Vaters, er selbst mit neunzehn, mit schwarzem Haar, Linnie nackt von vorn, von hinten, ein Teller mit Pommes frites, ein Bild legte sich über das andere, bis er plötzlich seine Hand auf dem Mobiltelefon spürte.
    Er wählte Cathys Nummer. Er erwartete nicht, dass sie da war, aber wenigstens würde er ihre Stimme vom Band hören. Und er wollte sie hören. Aber es gab keine Ansage, keine fröhliche Begrüßung, nur ein paar Töne in Moll, die ihm sagten, dass er die falsche Nummer gewählt hatte oder dass der Anschluss abgeschaltet war. Er wartete, klappte das Telefon zu, streckte sich aus und legte sich das Telefon auf die nackte Brust. Sein Gesicht war erhitzt und gerötet, und er lag still, ließ den Schock über sich rollen. Es war September. Er würde sie ein zweites Mal umwerben. Er würde sie zurückerobern. Linnie würde sich mit irgendeinem glatten jungen Mann zusammentun. Bis Thanksgiving hätten sie alles geklärt. Das Haus würde keinen Käufer finden, und alles würde wieder so sein wie vorher. Sie würde ihm verzeihen. Sie hatte ihm jedes Mal verziehen. Sie würden ein Feuer im Kamin machen und warme Schlafanzüge tragen und Tee trinken, sie würde seine Wangen berühren, und er würde sagen, es täte ihm leid. Und sie würde ihm verzeihen.
    Er setzte sich hin, klappte das
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