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Mr. Lamb

Mr. Lamb

Titel: Mr. Lamb
Autoren: Bonnie Nadzam
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Lichtblick, einem Fluchtweg. Vor ihm nichts als die schmutzige Straße mit grellen Plakaten, die Grenzen dieser Welt verkündend: Experten für Übertragungstechnik, Start-Finanzierung, Getränkeabholmarkt, Sofortdarlehen, Bürobedarf, dann ein Freeway Inn, ein Luxury Inn, ein Holiday Inn. Sollte es darunter oder dahinter noch etwas geben, so war es seinen Blicken verborgen. Auch sein Vater war eingezwängt, umwickelt, verschnürt gewesen. Sie hatten ihm die Lippen zusammengenäht.
    In der Geschichte, die sein Leben war, noch letzten Sommer – Gott –, eine Sache kann nur eine bestimmte Größe erreichen, bevor sie sich selbst zerlegt, wie in Übereinstimmung mit einem nicht formulierten Gesetz des Universums, das jeder kennt, aber unversehens vergisst. Selbst in einer gerade neu eingerichteten Küche, klein und sauber, überall Eierschalenweiß und rostfreier Stahl, traf das zu. Arbeitsfläche aus Naturstein, Glas mit schräg geschliffenen Kanten, von der Abendsonne vergoldet; zwei Fingerbreit Gin im Glas; Zeitungen und Post auf dem freistehenden Küchenmodul; Cathy mit Goldrandbrille beim Bohnenschnippeln; in seiner seidengefütterten Hosentasche Elizabeth Drapers Kette aus winzigen blauen Glasperlen; ein Anruf von Linnie auf seinem Mobiltelefon; das Blinken seiner Manschettenknöpfe jedes Mal, wenn er das Glas hebt; ein Fax von Wilson; John Draper verlegen grinsend an der Tür: ober mit ihm draußen auf der Einfahrt oder in der Garage ein Bier trinken möchte; Cathys Schwester, der Blick trübe, das Gesicht faltig, mit ihrem Volvo auf der Einfahrt: Hi, David. All das – und jetzt, was hatte er jetzt, was stützte ihn?
    Lamb rieb sich die Schläfen und überlegte, ob er sich einfach hier, auf dem Parkplatz, hinsetzen und warten sollte, bis jemand auf ihn zukam oder jemand ihn bat, weiterzugehen, aber als er dem Verkehr den Rücken zukehrte, um sich die Zigarette anzuzünden, sah er das Mädchen.
    Sie kam auf ihn zu, bekleidet mit einem schief sitzenden lila Top, weiten Shorts und bronzefarbenen, mit Strass besetzten Sandalen. Sie hatte eine riesige knallrosa Lacklederhandtasche dabei und war möglicherweise das Schlimmste, was er den ganzen Tag gesehen hatte. Magere weiße Arme und Beine ragten staksig aus ihren Klamotten. Die Shorts hingen ihr auf den Hüftknochen, und ihr Bauch sah aus wie ein geflecktes weißes Betttuch. Es war grotesk. Es war entzückend. Sommersprossen hatten sich in breiten Streifen auf ihren Wangenknochen, auf dem schmalen Nasenrücken und auf der kleinen Wölbung der Stirn, unmittelbar über ihren Augenbrauen, angesammelt. Es gab große Sommersprossen, erbsengroß, andere kleiner. Manche waren blass, andere dunkel, manche lagen übereinander auf ihren nackten Schultern und ihren Wangen, wie verkohltes Konfetti. Er starrte sie an. So etwas hatte er noch nie gesehen.
    »Hi.« Zwischen den Vorderzähnen hatte sie eine kleine Lücke, ihre Augen standen weit auseinander, und sie hatte eine Nase mit perfekt runden Nasenlöchern. Sie war ein besprenkeltes Schweinchen mit Wimpern. »Ich soll Sie um eine Zigarette bitten.«
    Hinter ihr, bei den Mülltonnen vor der Backsteinmauer des Drogeriemarkts, standen zwei Mädchen in einem bunten Knäuel aus Armreifen, knappen Shorts und Pferdeschwänzen. Er sahdas Mädchen an. Bemerkte ihre abgebissenen Fingernägel. Ihre kleinen Füße in Schuhen, die ihr ein oder zwei Nummern zu groß waren. Die Schuhe ihrer Mutter, mutmaßte er. Ihm war ein wenig übel.
    »Was soll das?«, fragte er. »Ist das eine Wette?«
    Das Mädchen legte den Kopf auf die Seite und hielt die Hand vor die Augen als Schutzschild gegen die Sonne.
    »In welcher Klasse bist du?«
    »In der siebten.«
    »Lernst du da nichts?«
    Sie zuckte die Schultern. Die Mädchen hinter ihr kicherten.
    »War das deine Idee?«
    Schulterzucken.
    »Wessen denn?«
    »Sids.«
    »Welche ist Sid?«
    Das Mädchen drehte sich um, und sofort verstummten ihre Freundinnen. »Die rechts«, sagte sie.
    »Die blonde.«
    »Genau.«
    »Sid, wie Sidney.«
    »Genau.«
    Sid wusste, dass sie gemustert wurde. Sie strich sich die Haare zurück und schob eine Hüfte nach vorn.
    »Ist sie auch in der siebten Klasse?«
    »Sind wir alle.«
    »Sie sieht älter aus.«
    »Ich weiß.«
    David Lamb holte seine Zigaretten aus der Hosentasche. Er sah zu den Überwachungskameras am Eingang der Drogerie hinauf, die auf die Türen und den Parkplatz gerichtet waren. Er klopfte eine Zigarette aus der Packung und gab sie dem Mädchen.Sie
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