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Mr. Lamb

Mr. Lamb

Titel: Mr. Lamb
Autoren: Bonnie Nadzam
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zehn Sekunden. Sie stieß mit dem Kopf an das Seitenfenster und schrie.
    »Ich will dir nur was klarmachen, okay?«
    Sie legte ihre Hände flach an das Seitenfenster und sah zu ihren Freundinnen hinüber, die wie erstarrt mit matt hängenden Pferdeschwänzen dastanden.
    Lamb zog die Tür zu, verriegelte sie und ließ den Motor an. »Du hast dir nicht wehgetan, oder?« Sie kauerte an der Tür und hielt sich den Kopf. »Ich bringe dich nach Hause«, sagte er. »Einfach nach Hause. Wo wohnst du?« Sie wandte sich zum Fenster und zog immer wieder am Türgriff, zog und zog daran,und sah ihn über die Schulter hinweg an. Ihre Augen waren riesig. Dann fuhren sie los, vom Parkplatz runter und auf die vierspurige Straße.
    »Wo wohnst du?«, fragte er etwas lauter und fuhr schneller. »Sag mir, wie ich fahren soll.« Sie kamen an einem Kentucky Fried Chicken vorbei und an einer BP-Tankstelle. Sie sagte ihm mit zitternder Stimme die Adresse, er wiederholte sie und zeigte über die Dächer der Ladenreihe zu drei Wohntürmen. Das Mädchen nickte. Er beschimpfte sie während der ganzen Fahrt, spielte den Erbosten. Seine Hände am Steuerrad zitterten. Die Unterseite seiner Oberschenkel war schweißnass. Er schimpfte mit ihr, wie seiner Meinung nach ein Vater mit ihr schimpfen sollte.
    »Ich könnte mit dir irgendwohin fahren und dich umbringen. Ist dir das klar?«
    Sie klammerte sich an den Türgriff.
    »Das war eine dumme Idee, dass du mich angequatscht hast. Hab ich recht?«
    Wieder zog sie an dem Türgriff.
    »Sag was.«
    »Entschuldigung«, flüsterte das Mädchen. »Bitte.« Sie war starr vor Angst. Gut! Was er gesagt hatte, stimmte. Er konnte sie irgendwohin bringen und umbringen. Er konnte tun, was er wollte. Sie zog die Lippen nach innen, wo ihre Zahnlücke war. »Jetzt hör mal auf«, sagte er. »Hör auf damit.« Und als er sah, wo sie wohnte, am Freeway, hinter einer Tankstelle und sechs Spuren Verkehr, war das Gefühl von Mitleid für sie – zum zweiten Mal, seit sie ihn angesprochen hatte – von dem Schock der Erkenntnis überblendet, dass er selbst auch als Verlierer dastand. Schließlich war er jetzt hier. Zusammen waren sie in diesem Moment gefangen.
    »Lass dich nicht von deinen Freundinnen so rumschubsen«,sagte er. Sie sah ihn an und zog am Türgriff. »Und zieh dich anständig an.« Er ließ seinen Blick an ihr entlangwandern. »Ich meine, was willst du darstellen? Wessen Idee war das? Etwas so Dummes zu tun … und dann in diesen Klamotten?«
    »Bitte«, flüsterte sie. Sie war kalkweiß.
    »Warte«, sagte er, als er auf den Platz vor dem Eingang zu ihrem Wohnturm einbog. Er entriegelte die Türen, und sie purzelte aus dem Wagen. »Warte einen Moment«, sagte er. Er hielt ihre Handtasche hoch. »Schlüssel?«
    Sie rappelte sich auf und wich vor dem Wagen zurück, eine Körperlänge zurück, und blickte auf die Handtasche.
    »Geben Sie mir die!«
    »Jetzt warte.«
    »Ich hol die Polizei!« Ihre Stimme war schrill. Lamb sah sich um. Es war eine Anschuldigung. Eine Warnung. Aber nur, weil sie sich gedemütigt fühlte. Lamb sah, dass sie alles registrierte: seinen teuren Anzug, den Ford Explorer, die Ledersitze, sein ordentlich geschnittenes Haar, sein glattes Gesicht, alles sauber, teuer, bequem. Er gab ihr die Handtasche, sie nahm die Schachtel Zigaretten heraus und warf sie auf ihn.
    »Ich bin kein übler Typ«, sagte er. »Aber ich hätte einer sein können.«
    Ihre Augen blitzten hasserfüllt.
    »Gut«, sagte Lamb. »Sehr gut.« In dem Mädchen war ein Funke, mit dem er nicht gerechnet hatte, und er war erleichtert, als er das sah, erleichtert auch, von etwas überrascht zu sein. Egal, wovon. Auf der anderen Seite des Wohnturms wechselte die Ampel auf Grün, es wurde gehupt, die Autos fuhren los. Ein Mann mittleren Alters mit einem enormen Bauch und einem braunen Schnauzer sah ihnen von der Glastür aus zu.
    »Vielleicht sollte ich mitkommen und deinen Eltern erzählen, was passiert ist«, sagte er.
    »Ist keiner zu Hause.« Natürlich, keiner zu Hause.
    »Hast du Geschwister?«
    »Ich habe Freundinnen.« Sie warf ihm die Worte wie Steine entgegen.
    »Stimmt ja«, sagte Lamb und nickte. »Meinst du, sie sind in den Drugstore gegangen und haben jemandem was erzählt?«
    Sie sah ihn an, und ihre Augen nahmen wieder ihren dumpfblauen Ausdruck an. »Nein.«
    »Ich glaube das auch nicht.«
    Er sah, wie sich ihre Miene verdüsterte. Er wusste, was das war. Er wusste genau, in welche Ecke sie sich zurückzog.
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