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Morgens um sieben ist die Welt noch in Ordnung

Morgens um sieben ist die Welt noch in Ordnung

Titel: Morgens um sieben ist die Welt noch in Ordnung
Autoren: Eric Malpass
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lebensvollen Schritten, während seine Augen hin und wieder zur Sonne schweiften, die langsam den weißen Nebelfeldern auf den Marschwiesen zustrebte. Schließlich blieb er stehen, stützte sich auf seinen Stock und sah zu, wie der rote Sonnenball hinter der Erde versank. Er beobachtete, wie das warme Rosa und Blau, das kühle Grün langsam aus dem Himmel wich. Er sah hinauf zu dem funkelneuen Abendstern, der da oben im klaren Blau des Himmels blitzte. Jocelyn stand neben ihm. Endlich wandte sich der alte Mann ab. «Ein schönes Schauspiel, Jocelyn», sagte er.
    «Ja.»
    John Pentecost kehrte um. Sein Sohn mit ihm. Und diesmal schien der alte Herr nach Worten zu suchen. «Ein schönes Schauspiel», wiederholte er. «Findest du... würdest du sagen, daß hinter all dem ein Sinn liegt? Ist es... nur etwas, das man uns als schön beigebracht hat, oder ist es... mehr ein Ausdruck, oder etwas... eine Form der Liebe... oder ein göttliches Walten?»
    Jocelyn ging weiter. «Ich weiß nicht», sagte er endlich. «Ich glaube, uns ist nur ein kurzer Blick auf den Saum seines Gewandes vergönnt. Aber... genau weiß ich es auch nicht. Ich weiß es wirklich nicht.»
    «Es könnte doch sein, daß sich da oben wer über uns lustig macht», sagte der alte Mann.
    «Sich lustig macht?»
    «Ja, die Pracht dieses Sonnenunterganges. Und daneben die einzige Wirklichkeit: nur Würmer und nasser Lehm.»
    Sie wanderten weiter. Zu ihren Füßen wand sich der Fluß wie eine Silberschlange durchs Tal. Hoch über ihnen leuchtete ein Stern nach dem anderen auf. Als sie zu Hause ankamen, war es fast dunkel, und die Milchstraße breitete sich über den Himmel wie ein Ordensband. Der alte Mann blickte hinauf. Dann trat er als erster ins Haus, wandte sich zu seinem Sohn um. «Danke, Jocelyn. Das war lieb von dir.» Er machte sich damit zu schaffen, den Stock in den Schirmständer zu stellen. «Ich werde deine Tante vermissen, weißt du. Zuerst deine Mutter. Jetzt sie.» Er schenkte ihm eines seiner seltenen Lächeln. «Der nächste bin ich.»
    Jocelyn fragte: «Hast du Angst?»
    Sein Vater blickte ihn rasch an. «Nein. Nein. Ich habe keine Angst. Aber weißt du, Jocelyn, ich werde alles vermissen. Die Erde unter meinen Füßen und den Wein in meiner Kehle und die Sonne auf meiner Stirn.»
    Er schickte sich an, die Treppe hochzugehen. Jocelyn sagte: «Gute Nacht, Vater. Hoffentlich schläfst du gut.» Es war lange her, daß er und sein Vater sich so nahe gewesen waren. Aber der alte Mann hatte seinen Panzer abgelegt. Der alte Baum begann zu wanken.
    Er knipste über seinem Schreibtisch das Licht an. Holte sich ein weißes Blatt Papier und saß lange Zeit da und dachte an vieles. An Rose und ihre Liebe, und an Becky und ihre Liebe. An den alten Mann, der wehmütig einen seiner letzten Sonnenuntergänge bewundert hatte. An May, wie er sie am Weihnachtsmorgen gesehen hatte, mit dem Lächeln der Verheißung auf den Lippen. An das Singen des Kindes auf dem Weg, an die Finsternis, die sich jenseits dieser kleinen Lampe bis zu den weitesten Sternen erstreckte. An Tante Marigold, die arme kleine Frau, die ihre dunkle Reise jetzt ganz allein antreten mußte. An Gaylord. Am meisten an Gaylord, der schon so zeitig die erbarmungslose Grausamkeit unserer Tage hatte kennenlernen müssen.
    Erst um Mitternacht löschte er das Licht. Und hatte nur vier Zeilen geschrieben.
    Und die waren nicht zur Veröffentlichung bestimmt.
    Als May, Wochen später, den Schreibtisch ihres Mannes aufräumte, fand sie ein Blatt Papier, auf dem vier Zeilen - wie ein Gedicht - angeordnet waren:
    Jenseits des Lampenlichts - die Sterne.
    Jenseits der sinkenden Sonne - die Schwingen der Engel.
    Hinter der Fratze der Gewalt - das Gesicht der Liebe.
    Hinter dem Gesicht der Geliebten - das Antlitz Gottes.
    Sie machte sich auf den Weg zu Jocelyn. Sie fand ihn in der Scheune beim Holzhacken. «Hast du das hier geschrieben?» fragte sie.
    Er sah auf. «Ja.»
    Sie setzte sich auf den Hauklotz. «Glaubst du daran, trotz allem, was Gaylord passiert ist, und allem andern?»
    «Ja», sagte er. «Darum habe ich es auch aufgeschrieben.» Er blickte sie an und lächelte. «Glaubst du daran?» fragte er.
    «Wenn du es tust», antwortete sie. «Ja. Denn ich glaube an dich, Jocelyn.»
    «Danke», sagte er. Er ließ seine Finger an der Schneide der Axt entlanggleiten. «Ich kann mich natürlich irren. Aber... ich habe darüber nachgedacht.»
    «Ich habe auch darüber nachgedacht», sagte sie. «Als ich Tante
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