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Morgen des Zorns

Morgen des Zorns

Titel: Morgen des Zorns
Autoren: J Douaihy
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Hang schmiegt. Sie kann keinen Meter weit mehr sehen, und trotzdem hat sie den Vorhang immer ein Stück zugezogen, um den Ort zu verdecken, den sie niemals zu besuchen oder zu passieren gewagt hat. Sie wird nicht jede Nacht aus dem Bett aufstehen müssen, um die Tür zweimal abzuschließen. Sie wird ihre Verstecke wieder öffnen und alles herausholen, was Elia nicht hat sehen sollen. Sie wird die »Sachen von Jûssef« wieder hervorholen, sie wird die Fotos ihres Mannes an ihren Platz an der Wand hängen oder auf den Tisch zurückstellen, wo sie in ihren Rahmen standen. Und heute Nacht wird sie wieder zu ihrer Stimme einschlafen. Sie wird den Rekorder neben ihrem Bett anstellen und lauschen, wie ihre Stimme vor Jahren geklungen hat, als sie sang:
    Ahmad, Muhammad, Ali Pascha wollten mich töten.
    An einem Freitag war’s.
    An einem Freitag, wenn alle sich besuchen.
    Mich hob man hoch aufs Kamel,
    ein Henker war’s, der es geführt …

XXIII
    Auf dem Flug zwischen Libanon und Zypern war Elia still und angespannt. Ihm war nicht nach Reden zumute, und als die bildhübsche Stewardess ihm ein Glas Tomatensaft servierte, brachte er kaum ein Dankeschön über die Lippen. Er steckte die Nase tief in ein Buch, um den Eindruck zu vermitteln, er sei ans Reisen gewöhnt und weder das Abheben verursache ihm ein flaues Gefühl noch die plötzlichen Erschütterungen, die die Flügel hin und wieder erzittern ließen, während das Flugzeug in der Abenddämmerung durch einen klaren Himmel schwebte. Aber es gelang ihm nicht, auch nur einen einzigen Satz mit Sinn zu füllen. Er verlor immer wieder den Faden, und die Bedeutungen der Worte verflüchtigten sich in seinem Kopf. Ihm wurde jedes Mal angst und bange, wenn das Flugzeug abhob und frei zu schweben begann, auch wenn es sich nur um eine kurze Strecke handelte. Sein Gepäck war ihm lästig, die Tasche voller Essen und das Akkordeon. Die von Kâmleh gepackte Tasche mit den Lebensmitteln hatte er im Handgepäckfach über den Köpfen der Passagiere verstaut, aber für das Akkordeon hatte er keine befriedigende Lösung finden können. Jetzt behinderte es ihn, mal stellte er es zwischen seine Beine auf den Boden, mal nahm er es auf den Schoß. Der dicke ältere Mann mit dem Schnurrbart neben ihm, der von Anfang an versucht hatte, mit ihm ins Gespräch zu kommen, indem er beharrlich, aber erfolglos nach seinem Namen, seinem Geburtsort und dem Ziel seiner Reise gefragt hatte, war ihm unangenehm. Elia hielt ihn für einen Gebrauchtwagenhändler und hatte beschlossen, sich nicht auf ihn einzulassen. Enttäuscht wandte sich der Mann daraufhin dem Fenster zu, neben das zu setzen er sich gleich nach dem Besteigen des Flugzeugs beeilt hatte, und starrte zwischen den leuchtenden Wolken hindurch auf die Oberfläche des klares Meeres, einfältig, geistesabwesend, bis das Flugzeug schließlich so sanft landete, wie Elia es niemals erwartet hätte.
    Im Flughafen von Larnaka musste er in der Nacht stundenlang auf seinen Weiterflug warten, das Gepäck hatte er neben sich gestellt. Ihm war noch immer beklommen zumute. Die Gesichter der wenigen Reisenden in der Wartehalle erschienen ihm so vertraut wie unsympathisch. Araber oder ihre Vettern: Zyprioten, Türken, Griechen. Auch in die Heimat zurückkehrende Libanesen warteten dort, die sich die Zeit mit dem Singen trauriger Lieder vertrieben. Und eine Gruppe europäischer Touristinnen, schlank und blond. Sie hatten nur leichtes Gepäck dabei, trugen kurze Hosen und schienen das Reisen und den Aufenthalt in Flughäfen gewohnt zu sein. Sie reisten wahrscheinlich in die entgegengesetzte Richtung. Als ihm das Warten lang wurde, öffnete er die Tasche mit dem Essen, die er seiner Mutter zuliebe mitgenommen hatte. Sie hatte ihm fast die Schulter ausgerenkt, so schwer war sie, und die Reise nach New York war lang. Zuerst untersuchte er die Weizengrütze-Bällchen, brach eines auseinander und betastete die zu dicke, trockene Fettfüllung. Danach öffnete er die Tüte mit dem Käse und steckte einen Finger in die salzige, harte weiße Masse. Er kostete nur einen einzigen Bissen, ein großes Stück, das er sich, nachdem er sich vergewissert hatte, dass ihn niemand beobachtete, in den Mund schob. Er kaute langsam und genüsslich, ließ den Käse im Mund zergehen. Als er ihn hinunterschluckte, stieg ihm der berauschende Ziegengeschmack in die Nase. Der Geruch von Ziegen mit dichtem schwarzem Fell. Als gegen zwei Uhr morgens sein Flug aufgerufen wurde, blickte er
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