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Morgen des Zorns

Morgen des Zorns

Titel: Morgen des Zorns
Autoren: J Douaihy
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ereignet. Als wolle sie der Freundin ihres Lebens einen Ersatz für das bieten, was das vorgerückte Alter ihr vorenthält.
    Elia bekommt nicht genug davon, sie zu umarmen und zu küssen. Sie lässt es geschehen, ohne zu weinen. Eigentlich aber will sie, dass er damit aufhört. Schließlich lässt er von ihr ab und trägt sein Gepäck zum Auto, kommt aber noch einmal zurück, um sie ein letztes Mal zu umarmen. Kâmleh ruft den Taxifahrer zu sich und ermahnt ihn, nicht zu schnell zu fahren und so lange im Flughafen zu warten, bis er sicher wisse, dass Elia abgereist sei. Auf seinem Rückweg solle er bei ihr vorbeikommen, um ihr zu bestätigen, dass das Flugzeug tatsächlich mit ihm abgehoben habe. Er verspricht ihr alles, und dann hört sie die Autotüren eine nach der anderen zuschlagen. Zum letzten Mal hört sie Elia »Mama« rufen. Der Fahrer lässt den Motor an. Kâmleh weiß, dass das Auto nach etwa fünfzig Metern links in die Hauptstraße einbiegen wird. Nachdem etwas Zeit verstrichen ist, fragt sie Muntaha:
    – Hat er sich umgedreht?
    Muntaha tut, als habe sie die Frage nicht gehört hat. Kâmleh wiederholt:
    – Hat Elia hierher geguckt, vor der Kurve?
    – Hat er, hat er …
    Muntaha belügt sie.
    Nachdem die Nachbarn sich nach Hause begeben haben – ohne ein Wort zu sprechen, weil sie wissen, dass Kâmlehs Hörvermögen mit dem Schwinden ihres Augenlichts zugenommen hat …; nachdem es den Schulkindern langweilig geworden ist, Kâmleh dabei zu beobachten, wie sie wieder auf dem Balkon auf ihrer Bank neben den Dahlien sitzt, und sie sich wieder zerstreuen, um an diesem unerwartet freien Tag durch die Gassen zu stromern oder sich auf die Läden mit den Computerspielen zu verteilen …; nachdem Muntaha behauptet hat, sie müsse nach Hause gehen, um das Mittagessen zuzubereiten, und Kâmleh dazu schweigt, obwohl sie weiß, dass Muntaha meistens gar nichts kocht und neben der Spüle irgendeine Kleinigkeit im Stehen isst …; nachdem all dies geschehen ist, wird Kâmleh tief Luft holen, sich eine Tasse Kaffee kochen und ihr gewohntes Leben wiederaufnehmen.
    Sie wird die stehen gelassenen Tassen und Aschenbecher auf der Bank und den niedrigen Tischen ertasten und dabei wird sie auf ein dickes Heft stoßen, das dort liegen geblieben ist. Zuerst wird sie nicht wissen, dass es sich um das Heft handelt, in das Elia all seine Beobachtungen während seiner Libanonreise notiert hat. Sie wird nicht wissen, ob er es vergessen oder ob er es absichtlich auf der Bank hat liegen lassen. Aber wenn sie Muntaha, die an diesem schweren Tag zu ihr zurückkommt, am Nachmittag bitten wird, ihr daraus vorzulesen, so werden sie die ersten Worte an das Evangelium erinnern:
    »Und Adam wusste, dass Eva seine Frau war, und sie wurde schwanger und gebar Kain, und da sagte sie, ich habe einen Sohn von Gott geboren. Dann wurde sie wieder schwanger und gebar Abel. Abel war ein Schafhirte und Kain bestellte den Boden. Und nach einigen Tagen machte Kain von den Früchten des Bodens Gott ein Geschenk, und auch Abel schenkte ihm einige seiner fetten Lämmchen. Da betrachtete Gott Abel und sein Geschenk, aber Kain und sein Geschenk beachtete er nicht …«
    Muntaha wird das Lesen langweilen und Kâmleh das Zuhören. Muntaha wird weiter vorblättern: »Ich habe mehr als sieben sich widersprechende Versionen darüber gehört, wie die Ereignisse ihren Ausgang nahmen. Als hätten alle im gleichen Augenblick angefangen zu schießen. Jeder, den ich gefragt habe, hat seine eigene Geschichte …«
    Sie werden auch eine durchnummerierte Liste entdecken und feststellen, dass es eine Liste derer ist, die bei dem Vorfall von Burdsch al-Hawa umgekommen sind. Elia hat nicht die Namen, sondern nur Beruf und Familienstand notiert. Muntaha wird zu lesen anfangen und immer wieder kurz innehalten, um zu überlegen, wer gemeint ist:
    »Fahrer eines amerikanischen Lkw der Marke ›Dodge‹, Baujahr 1946. Er arbeitete auf den Auslandsstrecken nach Syrien und Jordanien, und bei ganz langen Reisen gelangte er sogar in den Irak. 32 Jahre, verheiratet, Vater von vier Kindern, das jüngste erst eine Woche alt.«
    – Das ist Saîd al-Abras!, wird Kâmleh sagen.
    »Ein Schneiderlehrling, Junggeselle, 25 Jahre.«
    – Farîd Badawi al-Samaani!
    Muntaha wird ihn erkennen.
    »Ein Mechaniker, der in einer ortsansässigen Autowerkstatt ein Praktikum machte. Er hatte gute Leistungen gezeigt, denn der Meister ließ ihn die Reparatur kleinerer Schäden mittlerweile allein
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