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Morgen des Zorns

Morgen des Zorns

Titel: Morgen des Zorns
Autoren: J Douaihy
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bleiben. Sie verfolgen jede Bewegung, sie beobachten Elia, der in leisem Ton mit seiner Mutter spricht. Dann zögert er einen Moment, schaut in die Runde, schätzt die Anwesenden ab und geht lächelnd ins Haus.
    Kurz danach kommt er wieder heraus, sein Instrument auf dem Arm. Er pustet den Staub ab und erspürt die Tasten. Die Kinder kommen wieder näher, manche von ihnen bringen sogar den Mut auf, sich über das Balkongeländer zu schwingen und sich auf den Boden zu setzen, neben Kâmleh und Elia. Auch etliche Nachbarn haben sich eingefunden, weil sie dabei sein wollen, wenn Kâmleh ihren Sohn verabschiedet. Er drückt eine Taste, dann zwei, um sich zu vergewissern, dass das Instrument noch Töne von sich gibt. Er lächelt. Die Anzahl der Schaulustigen nimmt zu, sie rufen sich gegenseitig aus den schmalen Gassen herbei. Das ganze »Banden«-Viertel ist da.
    Er wird die Lieder für sie spielen, die er nach all den Jahren noch auswendig kann. Sie starren ihn an, schweigend, gebannt. Sie verfolgen mit den Augen, wie er das Instrument bis zum Anschlag aufzieht, fast so weit, wie seine Arme reichen. Sie sind fasziniert davon, wie weit es sich öffnen lässt. Er zieht es auseinander und schiebt es wieder zusammen, bis es ganz geschlossen ist. Vermutlich hat er während seines Aufenthalts in der Fremde kein Akkordeon in den Händen gehalten, doch sobald er die Tasten drückt, ist seine Fingerfertigkeit wieder da, wie bei einem Fahrradfahrer, der das Fahrradfahren niemals wieder verlernt. Anmutig beugt er sich über das Akkordeon und schließt leidend die Augen, als peinige ihn die traurige Melodie, die das Instrument hervorbringt. Bei einem schnelleren Rhythmus wippt er beschwingt mit den Füßen und wiegt sich tänzelnd im Takt. Er spielt all die Stücke, die ihm in den Sinn kommen, bis Kâmleh ihn um das Lied »Besucht mich einmal jährlich« bittet. Beim Spielen schaut er den Kindern in die Augen, die über die Geschicklichkeit seiner Finger staunen. Sie beobachten ihn, wie er spielt, ohne die Musik wahrzunehmen, die er dem seltsamen Gerät entlockt. Sobald Elia zu spielen begonnen hat, macht sich eine eigentümliche Stille im Viertel breit, der Verkehr scheint komplett zum Stillstand gekommen, keine Mutter ist zu hören, die ihren Sohn ruft, keine klappernde Tür und kein Hund, der in der Nachbarschaft bellt.
    Als sich die ersten Anzeichen von Erschöpfung bei Elia bemerkbar machen und er aufhört, den Zuhörern zuzulächeln, fordert Muntaha die Kinder des Viertels auf zu verschwinden. Kâmleh möchte jetzt ihren Sohn verabschieden, sagt sie, sie sollen »zu ihrer Mutter« spielen gehen. Muntaha kennt keine andere Sprache. Aber die Kinder rühren sich keine Handbreit von der Stelle. Sie wollen die Szene bis zum bitteren Ende verfolgen. Muntaha droht, sie werden sich ins Wohnzimmer zurückziehen, aber da beginnen die Kinder des Viertels sogleich empört zu schreien.
    Sie werden dabei sein, wenn Elia sich von seiner Mutter verabschiedet. Genau deshalb sind sie hier.
    Sie hat ihm ein Dutzend Bällchen aus Weizengrütze mit einer Fettfüllung zubereitet, ihm ein Kilo getrocknete Bohnen aufgefädelt und ein Glas mit in Öl eingelegten Joghurt-Bällchen eingepackt. Außerdem hat sie noch Ziegenkäse, eingelegte Oliven und Olivenöl vom oberhalb gelegenen Harîk-Grundstück mit der rötlichen Erde in eine Tasche gestopft. Sie hat heimlich jemanden Pistaziengebäck in einer gut verschlossenen Holzkiste aus Tripolis besorgen lassen und diese mit einem halben Block getrockneter Feigen und einer kleinen Tüte brauner Weizengrütze dazugepackt. Der gleiche Taxifahrer, der ihn nach Burdsch al-Hawa gebracht hat, wird ihn gleich zum Flughafen fahren … Er wird den ganzen Weg über nur das Nötigste sprechen.
    Kâmleh hat sich die eine Frage bis zum Schluss aufgehoben, bis zum Augenblick der Trennung. Sie duldet, dass er ihre Hand hält, als sie sie ganz unvermittelt stellt:
    – Was soll ich mit dem Haus machen, mein Junge?
    Die Frage überrascht ihn.
    – Mit welchem Haus?
    – Mit diesem Haus, mit deinem Haus …
    Er will etwas sagen, doch dann besinnt er sich anders.
    Sie wird nicht insistieren.
    Sie folgt ihm zur Haustür. Dort bleibt sie stehen, Muntaha neben ihr. Muntaha ist gerade erst zurück, sie hat geschafft, die Kinder zu verscheuchen, weil das Ereignis jetzt kurz bevorsteht. Muntaha hat sich mit dem allmählichen Verlöschen von Kâmlehs Augenlicht angewöhnt, ihr flüsternd mitzuteilen, was sich vor ihren Augen
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