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Am Anfang war die Nacht Musik

Am Anfang war die Nacht Musik

Titel: Am Anfang war die Nacht Musik
Autoren: Alissa Walser
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Erstes Kapitel
20. Januar 1777
    An diesem Wintermorgen geht der bekannteste Arzt der Stadt, verfolgt von seinem Hund, die Treppe vom Schlaftrakt zu seinen
Praxisräumen hinab. Die honigbraunen Stufen erlauben bequeme Schritte und den Hundepfoten einen mühelos rhythmischen Trab. In diesem Haus gibt es keine
steilen, schmalen Stiegen. Wie früher, im Haus seiner Eltern. Wo er stets durch eine Luke in den Dielen wie auf einer Leiter in den unteren Stock
hinunterkletterte – wenn er nicht fiel und sich dabei blaue Flecken holte.
    Natürlich wäre er lieber im Bett geblieben. Draußen ist es stockdunkel und kalt. Doch steht ein wichtiger Krankenbesuch an, vielleicht der wichtigste
seiner Laufbahn: Er soll die blinde Tochter des kaiserlich-königlichen Hofbeamten Paradis untersuchen. Frau Hofsekretär hat um einen Hausbesuch
gebeten. Des Aufstiegs wegen ist er so früh auf den Beinen. Und steigt diese Treppe hinab, die zu keinem Frühaufsteher passt. Die üppige Breite, die nur
angedeutete Spirale – ein nicht ganz zu Ende gedachtes Schneckenhaus – erinnern an eine Harmonie, die höchstens der Ausgeschlafene empfindet. Ist er
nicht. Und dass Kaline, das Hausmädchen, Lampen und Ofen angezündet hat, ist nur ein schwacher Trost, solange sie selbst sich nicht blicken lässt. Wenn
er wenigstens musizieren dürfte. Da wohnt er nun seit seiner Heirat in diesem prächtigsten aller Häuser, mit so vielen Zimmern, dass selbst sein
Instrument ein eigenes hat,und darf jetzt trotzdem nicht spielen. Dabei fängt ein guter Tag immer mit Musik an. Fünf Minuten auf seiner
Glasharmonika genügen. Mozart, Haydn oder Gluck oder einfach die Finger laufen lassen, bis sie selbst eine Melodie finden und leicht über die Tastatur
fegen wie eine Katze, die im Schnee spielt. So leicht läuft dann auch der Tag.
    Aber Anna, seine Frau, schläft, die Patienten schlafen, alle schlafen noch, das ganze Haus. Wahrscheinlich ist auch Kaline wieder eingeschlafen. Das
sieht ihr ähnlich. Kaum lässt sie sich nieder, auf der Küchenbank neben dem Herd oder auf dem Hocker im Waschraum, sinkt sie in einen tiefen Schlaf. Vor
zwei Tagen erst hat er sie in diesem Zustand sogar im Salon ertappt. Zurückgelehnt in eines der Kissen glich sie einem zierlichen Tier mit geschlossenen
Augen. Oder einer schlanken Pflanze. Einer vom Schlaf überraschten Blüte. Gern hätte er länger auf ihre leicht gewölbten Lider geblickt. Geschlossene
Augen haben etwas so Unschuldiges, Wehrloses. Doch er musste sie wecken. Seine Frau wurde in solchen Fällen schnell laut, viel zu laut für ein arglos
schlafendes Mädchen. Er sagte ihren Namen, aber Kaline wachte nicht auf. Hinfassen wollte er nicht, also blieb er stehen und fing an, ihr ins Gesicht zu
blasen, bis sie die Augen aufschlug. Eher erstaunt als erschrocken, Entschuldigung murmelnd. Unbemerkt stand Anna in der Tür, und so wurde es doch noch
sehr schnell sehr laut, so laut, dass an Schlafen überhaupt nicht mehr zu denken war. Das Schimpfen vertrieb jeglichen Schlaf in die hintersten Winkel
des Hauses. Hinab in die dunklen Kellergewölbe. Und hoch hinauf, höher noch als die Zimmer der Bediensteten, in diese winzige Kammer direkt unterm
Dach. Ein Stübchen wie vonSpinnweben eingesponnen, wo die Fenster, der Tauben wegen, vernagelt blieben. Dort war der Schlaf noch
Schlaf, dieser natürlichste Zustand des Menschen. Und der ihm am meisten entsprechende. Schließlich beginnt des Menschen Dasein im Schlaf. Und wozu hat
die Natur ihn vorgesehen, wenn nicht dazu, ihr Dasein fortzuführen. Und welcher Zustand wäre hierfür geeigneter als der des Schlafs? Mesmers eigene
These: Man wacht, um zu essen und zu trinken, damit man ohne zu verhungern schlafen kann. Der Mensch wacht, um zu schlafen.
    Nur er nicht. Er schläft, um zu arbeiten. Er muss mit den Vögeln raus, nein, weit vor ihnen. Sein Tag beginnt, da träumt noch kein Vogel von noch
keiner Sonne. Und was heißt hier Sonne, was Vogel. Wien im Januar. Weder Sonne noch Vögel. Krähen ja, Rabenvögel. Große schwarz-graue russische Krähen,
in der Wiener Nebelsuppe kaum zu unterscheiden vom Steingrau der Häuser. Und wie sie ewig um Futter streiten.
    Was den Schlaf angeht, ist seine Frau überraschenderweise ganz und gar seiner Meinung. Anna behauptet sogar, Aufstehen vor zehn schädige die
Gesundheit. Und ein Mensch mit geschädigter Gesundheit sei nicht nach Gottes Geschmack. Und das in einem Ton, dass nicht einmal der Leibarzt der
Kaiserin, Störck, wagen würde, ihrem
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