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Morgen des Zorns

Morgen des Zorns

Titel: Morgen des Zorns
Autoren: J Douaihy
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Er begnügte sich damit, zuzuhören, zu lächeln und die ihm eigene Vertrauenswürdigkeit auszustrahlen. Sie ihrerseits erwartete keine Antwort. Doch nachdem sie lange über sich und über ihr Leben gesprochen hatte, fiel ihr wieder ein, dass die Regeln einer Unterhaltung eine gewisse Aufmerksamkeit für den anderen forderten. Sie fragte, ob er New York kenne, und die Frage löste den Knoten in seiner Zunge, er begann zu fabulieren und sich wieder einmal eine neue Biographie zurechtzuschneidern. Er lebe in New York, sagte er, sei in Ägypten geboren und in Alexandria in einer jüdischen Familie mit einer halbverrückten Tante aufgewachsen, deren richtiger Name Sarah sei. Zur Tarnung hätten sie sie jedoch Dschamîla genannt. Seine Tante habe behauptet, der Kommandeur des britischen Korps, Colonel Roger Witthaker, der während des Zweiten Weltkriegs in Ägypten stationiert gewesen sei und, wie sie sagte, todesmutig in der Schlacht von Alamein gekämpft habe, sei in sie verliebt gewesen. Der britische Geheimdienst habe ihr gegen eine hohe Summe eine Zusammenarbeit angeboten, doch sie habe abgelehnt. Als niemand mehr ihre Geschichte hören wollte, habe sie die Kinder der Familie zusammengetrommelt und ihnen von ihren Amouren und von ihren Fehlschlägen erzählt. Er habe eine jüngere Schwester, die sich in einen hübschen Muslim verliebt habe und mit ihm geflohen sei – trotz der Empörung der Familie, von der sie daraufhin verstoßen worden sei. Er wollte seine Geschichte gerade mit der üblichen Begeisterung zu Ende bringen, als er bemerkte, dass Susan neben ihm allmählich die Augen schloss, während ihr fast die Zeitschrift aus den Händen glitt. Er wusste nicht recht, was er tun sollte, doch dann stellte er fest, dass sie tatsächlich eingeschlafen war, den Kopf seitlich an seine Schulter gelehnt. Als hörte Susan noch immer zu, setzte Elia seine Erzählung fort, aber da sie nun einmal schlief, nutzte er die Gelegenheit, ihr eine andere Geschichte zu erzählen:
    – In einem kleinen, weit entfernten Dorf am westlichen Ufer des Mittelmeers gab es einen Ort, an dem die Zedern wie traurige Frauen dicht an dicht an den Hängen der hohen Berge standen, auf deren Gipfeln im Licht der Frühjahrssonne die Schneeflecken glänzten. Die Ebenen waren übersät von Olivenbäumen, und an einer Stelle sprudelte eine Quelle, in der der Berg seine Füße mit dem Wasser des uralten Meeres benetzte …
    Elia redete, als läse er in einem Buch. Vielleicht tat der monotone Rhythmus seiner Erzählung ein übriges, dass Susan tief und fest schlummerte.
    – Dort lebte ein Mann im Alter von vierzig Jahren. Eines Tages heiratete er das Mädchen, das er liebte und das ihn wiederliebte. Fünfzehn Jahre lang wurde ihnen kein Kind geboren. Nachdem sich die beiden in einer heißen Frühlingsnacht vereinigt hatten, geschah es, dass jener Mann am nächsten Tag bei einem Massaker in einer Kirche zu Tode kam. Und das war erst der Auftakt der Geschichte. Manch einer aus dem Ort versicherte, der Mann sei im allgemeinen Chaos versehentlich durch die Kugeln seiner Verwandten zu Tode gekommen, während andere meinten, seine Freunde, die der gegnerischen Familie angehörten, hätten ihn aus Treulosigkeit erschossen. Am Samstag, den siebten März des folgenden Jahres, brachte die Witwe des getöteten Mannes einen Jungen zur Welt. Die üblichen neun Monate einer Schwangerschaft wurden dabei um mindestens eine Woche überschritten – einmal angenommen, der letzte Beischlaf des Paares sei fruchtbar gewesen. Die Ärzte verfügten in der damaligen Zeit noch nicht über sichere Methoden, die Wehen einzuleiten und eine Geburt zu beschleunigen. Die Frau hätte aber sowieso keine Möglichkeit gehabt, einen Arzt aufzusuchen. Deshalb schickte sie, als die Zeit immer weiter fortschritt, nach einer Hebamme aus der Nachbarschaft. Aber auch diese hatte keinen anderen Rat als abzuwarten. Am nächsten Tag gebar die Frau inmitten der Kugeln, der Familienfehden und der nicht enden wollenden Racheaktionen einen Jungen. Bei seiner Geburt war er bereits groß und hatte einen großen runden Kopf. Mit vierzehn wusste er bereits französische Gedichte auswendig aufzusagen, und er spielte Akkordeon und Klarinette. Er konnte alles ein bisschen, Englisch, Arabisch, Französisch, Latein, aber keine der Sprachen beherrschte er wirklich. Er kannte die deutsche Philosophie, aber nicht die klassischen Philosophen. Er war ein Musiker, der keine Noten lesen konnte. Ein Experte
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