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Morddeutung: Roman (German Edition)

Morddeutung: Roman (German Edition)

Titel: Morddeutung: Roman (German Edition)
Autoren: Jed Rubenfeld
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die Kunst und Bedeutung einer richtig durchgeführten Untersuchung allem Anschein nach nicht im Geringsten zu würdigen wusste. Überhaupt hatte er etwas gegen jede Entscheidung der Behörde, die ihm je zu Ohren gekommen war, außer er hatte sie selbst getroffen. Allerdings verstand er sich auf seine Arbeit. Er war zwar genau genommen kein Doktor, aber er hatte volle drei Jahre Medizin studiert und konnte eine Autopsie sachkundiger durchführen als die fertig ausgebildeten Ärzte, die ihm als Assistenten zur Hand gingen.
    Nach fünfzehn nervenaufreibenden Minuten erschien Mr. Banwell endlich. Obwohl er nicht viel größer war als Hugel, schien er ihn zu überragen. »Und Sie sind?«
    »Der Coroner der Stadt New York.« Hugel bemühte sich, Herablassung in seinen Ton zu legen. »Außerdem bin ich der Einzige, der die Verstorbene berührt. Wer Spuren beseitigt, muss sich wegen Behinderung der Ermittlungen verantworten. Habe ich mich klar ausgedrückt?«
    George Banwell war – und wusste es ganz offensichtlich auch – größer, attraktiver, besser gekleidet und viel, viel reicher als der Coroner. »Unsinn«, sagte er. »Folgen Sie mir. Und sprechen Sie gefälligst leise, solange Sie sich in meinem Haus aufhalten.«
    Banwell ging voraus zum obersten Stock des Alabaster-Flügels, und Coroner Hugel folgte ihm zähneknirschend. Im Aufzug wurde kein einziges Wort gewechselt. Hugel, der entschlossen auf den Boden starrte, bemerkte Mr. Banwells makellos gebügelte Nadelstreifenhose und die glänzenden Schuhe, die bestimmt mehr gekostet hatten als Anzug, Weste, Krawatte, Hut und Schuhe des Coroners zusammen. Ein Diener, der vor dem Apartment von Miss Riverford Wache hielt, öffnete ihnen die Tür. Schweigend führte Banwell Hugel, den Hausverwalter und den Diener durch einen langen Gang zum Schlafzimmer der jungen Frau.
    Die fast nackte Leiche lag bleich und mit geschlossenen Augen auf dem Boden, das volle schwarze Haar über das komplexe Muster eines Orientteppichs gebreitet. Sie war noch immer atemberaubend schön – mit Armen und Beinen von erlesener Anmut -, doch ihr Hals zeigte eine hässliche Rötung, und ihr Körper war entstellt von den Spuren einer Peitsche. Die Handgelenke waren über dem Kopf gefesselt. Ohne Zögern trat der Coroner neben die Leiche und legte den Daumen auf ein Handgelenk, um den Puls zu tasten.
    »Wie wurde sie … wie ist sie gestorben?« Banwells Stimme klang rau. Mit verschränkten Armen wartete er.
    »Können Sie das nicht erkennen?«, entgegnete der Coroner.
    »Hätte ich gefragt, wenn ich es erkennen könnte?«
    Hugel sah unter das Bett. Er stand auf und betrachtete die Leiche aus verschiedenen Blickwinkeln. »Ich würde sagen, sie wurde erwürgt. Sehr langsam.«
    »Wurde sie …?« Banwell ließ die Frage unvollendet.
    »Möglicherweise. Mit Sicherheit kann ich das erst nach der Untersuchung sagen.«
    Mit einem Stück roter Kreide zeichnete Hugel einen groben Kreis mit einem Durchmesser von ungefähr zweieinhalb Metern um die Leiche und erklärte, dass diesen Kreis niemand betreten durfte. Dann inspizierte er das Zimmer. Alles war in vollkommener Ordnung. Sogar die teure Bettwäsche war sorgfältig eingesteckt und glatt gestrichen. Der Coroner öffnete die Wandschränke, die Kommode, die Schmuckkästchen. Anscheinend fehlte nichts. Im Schrank hingen aufgereiht die Paillettenkleider. In den Schubladen lag säuberlich gefaltet die Spitzenunterwäsche. Ein Diamantdiadem mit passenden Ohrringen und Halsband ruhte in harmonischem Arrangement in einer mitternachtsblauen Samtschatulle auf der Kommode.
    Hugel fragte, wer das Zimmer betreten hatte. Nur das Dienstmädchen, das die Leiche gefunden hatte, antwortete der Verwalter. Danach war die Wohnung verschlossen worden, und niemand war mehr hineingegangen. Der Coroner schickte nach dem Dienstmädchen, das sich zuerst weigerte, bis ins Schlafzimmer zu kommen. Es war eine hübsche, neunzehnjährige Italienerin in langem Rock und weißer Schürze.
    Hugel wandte sich an sie. »Junge Dame, haben Sie hier im Zimmer irgendetwas verändert?«
    Das Dienstmädchen schüttelte den Kopf. Trotz der Leiche auf dem Boden und der Blicke ihres Vorgesetzten hielt sie sich gerade und sah dem Fragenden offen in die Augen. »Nein, Sir.«
    »Haben Sie etwas hereingebracht oder mit hinausgetragen?«
    »Ich bin keine Diebin.«
    »Haben Sie irgendein Möbel oder ein Kleidungsstück bewegt?«
    »Nein.«
    »Sehr gut«, schloss Coroner Hugel. »Sie kann gehen.«
    »Bringen
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