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Morddeutung: Roman (German Edition)

Morddeutung: Roman (German Edition)

Titel: Morddeutung: Roman (German Edition)
Autoren: Jed Rubenfeld
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Unterhaltung sagte Banwell: »Ich kann keine Polizei in meinem Haus gebrauchen, McClellan. Niemand in Uniform. Die Angehörigen werde ich selbst verständigen. Ich bin mit Riverford zur Schule gegangen. Ja genau, mit dem Vater. Armer Kerl.«

     
    Nachdem er aufgelegt hatte, rief der Bürgermeister nach seiner Sekretärin. »Mrs. Neville, verständigen Sie Hugel. Ich muss sofort mit ihm reden.«
    Charles Hugel war der Coroner der Stadt New York. Zu den Pflichten eines Coroners gehörte es, bei jedem Verdacht auf Tod durch Gewalteinwirkung die Leiche zu untersuchen. Nun teilte Mrs. Neville dem Bürgermeister mit, dass Mr. Hugel schon den ganzen Vormittag im Vorzimmer wartete.
    McClellan schloss die Augen und nickte. »Ausgezeichnet. Schicken Sie ihn rein.«
    Noch bevor sich die Tür hinter ihm geschlossen hatte, begann Coroner Hugel eine entrüstete Tirade über die unwürdigen Arbeitsbedingungen im Leichenschauhaus der Stadt. Der Bürgermeister, der diese Klagelitanei bereits zur Genüge kannte, schnitt ihm kurzerhand das Wort ab. Er beschrieb die Situation im Balmoral und wies den Coroner an, mit einem nicht gekennzeichneten Wagen in den Norden der Stadt zu fahren. Die Bewohner des Gebäudes durften auf keinen Fall vom Erscheinen der Polizei Kenntnis erhalten. Später wollte der Bürgermeister noch einen Detective hinschicken.
    »Ich?«, protestierte der Coroner. »Das kann doch O’Hanlon aus meinem Büro machen.«
    »Nein«, erwiderte der Bürgermeister. »Ich will, dass Sie das persönlich übernehmen. George Banwell ist ein alter Freund von mir. Ich brauche einen Mann mit Erfahrung – und einen, bei dem ich auf Diskretion zählen kann. Sie sind einer der wenigen, die ich noch habe.«
    Nach kurzem Murren gab der Coroner nach. »Aber nur unter zwei Bedingungen. Erstens muss der Balmoral-Verwaltung sofort mitgeteilt werden, dass nichts angefasst werden darf. Nichts. Niemand kann von mir die Aufklärung eines Mordes erwarten, wenn die Spuren noch vor meinem Auftauchen zertrampelt oder sonst wie verfälscht werden.«
    »Klingt einleuchtend. Und zweitens?«
    »Ich habe die volle Zuständigkeit für die Ermittlungen, einschließlich der Wahl des Detectives.«
    »Einverstanden. Sie können sich den routiniertesten Mann des Stabs nehmen.«
    »Genau das werde ich nicht«, entgegnete der Coroner. »Es wäre mal eine erfreuliche Abwechslung, mit einem Detective zu arbeiten, der nicht alles an die Presse verrät, sobald ich den Fall gelöst habe. Wir haben da einen Neuen – Littlemore. Den will ich.«
    »Littlemore? Ausgezeichnet.« Der Bürgermeister wandte sich bereits wieder dem Stapel Papiere auf seinem großen Schreibtisch zu. »Bingham hat gesagt, er ist einer der wachsten jungen Köpfe bei uns.«
    »Wach? Er ist ein Volltrottel.«
    Der Bürgermeister schaute ihn erschrocken an. »Wenn Sie dieser Meinung sind, Hugel, warum wollen Sie ihn dann unbedingt?«
    »Weil er nicht käuflich ist – zumindest noch nicht.«

     
    Nach seinem Eintreffen im Balmoral wurde Hugel gebeten, auf Mr. Banwell zu warten. Hugel hasste es, wenn man ihn warten ließ. Er war neunundfünfzig Jahre alt, und die letzten dreißig davon hatte er im städtischen Dienst verbracht, zum großen Teil in den ungesunden Räumlichkeiten von Leichenschauhäusern, was seinem Gesicht einen grauen Ton verliehen hatte. Er trug eine dicke Brille, und zwischen seinen hohlen Wangen hing ein überdimensionaler Schnauzer. Bis auf zwei drahtig sprießende Haarbüschel hinter den Ohren war er völlig kahl. Hugel war ein reizbarer Mann. Selbst wenn er ruhte, vermittelten die schwellenden Schläfen den Eindruck eines drohenden Schlaganfalls.
    Im Jahr 1909 war die Position eines Coroners der Stadt New York eine Merkwürdigkeit, eine Unregelmäßigkeit in der Weisungshierarchie. Teils Leichenbeschauer, teils Kriminalermittler, teils Staatsanwalt, war der Coroner direkt dem Bürgermeister unterstellt. Bei der Polizei war er niemandem Rechenschaft schuldig, nicht einmal dem Polizeichef. Doch umgekehrt war auch niemand bei der Polizei dem Coroner Rechenschaft schuldig, nicht einmal der unterste Streifenbeamte. Für die Polizeibehörde, die er nicht ganz zu Unrecht für weitgehend unfähig und vollkommen korrupt hielt, hatte Hugel nur Verachtung übrig. Er hatte etwas gegen die Art, wie der Bürgermeister die Pensionierung von Chief Inspector Byrnes gehandhabt hatte, der offenkundig durch Bestechungsgelder reich geworden war. Er hatte etwas gegen den neuen Polizeichef, der
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