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Morddeutung: Roman (German Edition)

Morddeutung: Roman (German Edition)

Titel: Morddeutung: Roman (German Edition)
Autoren: Jed Rubenfeld
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New York eine einheitliche Vision fehlte. Es gab keinen Gesamtplan und keine steuernde Autorität hinter den Kulissen. Die Triebfeder waren allein Kapital und Spekulation, die auf eine typisch amerikanische und individualistische Art fantastische Kräfte freisetzten.
    Die Maskulinität des Ganzen war unverkennbar. Auf dem Boden drückte das unerbittliche Manhattaner Gitter – mit seinen zweihundert Straßen von Osten nach Westen und seinen zwölf Prachtavenuen von Norden nach Süden – der Stadt den Stempel abstrakter, geradliniger Ordnung auf. Doch darüber ging es in der Gigantomanie der hoch aufragenden Türme mit ihren pfauenartigen Verzierungen nur um Ehrgeiz, Spekulation, Konkurrenz, Herrschaft und Gier – nach Höhe, Größe und immer Geld.
    Das Balmoral am Boulevard – die New Yorker nannten den Broadway, der von der Fifty-ninth bis zur 155th Street verlief, damals noch Boulevard – war einer dieser gewaltigen neuen Prachtbauten. Allein seine Existenz war schon ein Glücksspiel. Im Jahr 1909 residierten die Vermögenden noch nicht in Wohnungen, sondern in Häusern. Sie »hielten« sich Wohnungen für kurze oder saisonale Aufenthalte in der Stadt, aber sie sahen nicht ein, wie man in so einem Ding allen Ernstes leben sollte. Das Balmoral spekulierte darauf, dass man die Reichen mit ausreichend opulenten Annehmlichkeiten zu einem Sinneswandel bewegen konnte.
    Es hatte siebzehn Stockwerke und ragte damit höher und prachtvoller auf als irgendein Wohnhaus davor. Seine vier Flügel nahmen einen ganzen Straßenblock ein. Die Eingangshalle, in der sich Seehunde in einem römischen Springbrunnen tummelten, erstrahlte in weißem Marmor aus Carrara. An den Kronleuchtern in sämtlichen Apartments funkelte Murano-Glas. Die kleinste Wohnung hatte acht Zimmer; die größte verfügte über vierzehn Schlafzimmer, sieben Bäder, einen großen Ballsaal mit sechs Meter hoher Decke und vollem Zimmerservice. Die Miete belief sich auf den haarsträubenden Betrag von 495 Dollar pro Monat.
    Der Eigentümer des Balmoral, Mr. George Banwell, befand sich in der beneidenswerten Position, dass er damit gar keine Verluste machen konnte. Seine Anleger hatten ihm 6 Millionen Dollar für das Projekt vorgestreckt. Als gewissenhafter Geschäftsmann hatte er davon keinen Penny behalten und die gesamte Summe an die für den Bau verantwortliche American Steel and Fabrication Company weitergeleitet. Doch der Eigentümer dieser Firma war ebenfalls Mr. George Banwell, und die tatsächlichen Baukosten beliefen sich lediglich auf 4,2 Millionen Dollar. Am 1. Januar 1909, ein halbes Jahr vor der geplanten Eröffnung des Balmoral, gab Mr. Banwell bekannt, dass bis auf zwei bereits alle Apartments vermietet waren. Diese Mitteilung war völlig frei erfunden, doch sie wurde geglaubt, und so entsprach sie schon nach drei Wochen den Tatsachen. Mr. Banwell hatte sich die große Wahrheit zunutze gemacht, dass man nicht nur Gebäude erschaffen kann, sondern auch die Wahrheit selbst.
    Das Äußere des Balmoral war ein besonders überladenes Beispiel des Beaux-Arts-Stils. An den Ecken des Anwesens wurde die Dachkante gekrönt von einem Quartett viereinhalb Meter hoher, voll verglaster Betonbögen. Da diese großen Bogenfenster zu den vier Hauptschlafzimmern des Obergeschosses gehörten, hätte sich einem Betrachter von draußen am 29. August ein äußerst kompromittierender Anblick dargeboten. Und tatsächlich war es eine schockierende Szene, die sich da im Alabaster-Flügel abspielte. Im flackernden Schein von einem Dutzend Kerzen stand spärlich bekleidet eine schlanke junge Frau von makellosen Proportionen, die Hände über dem Kopf gefesselt, die Kehle umschlungen von einem anderen Band, einer weißen Seidenkrawatte, die von einer starken Hand fest zusammengezogen wurde – so fest, dass sie würgend nach Luft rang.
    Ihr ganzer Körper glänzte in der unerträglichen Augusthitze von Schweiß. Ihre langen Beine waren nackt, die Arme ebenfalls. Auch ihre eleganten Schultern waren nahezu entblößt. Allmählich schwanden der jungen Frau die Sinne. Sie versuchte, etwas zu sagen. Sie wollte unbedingt eine Frage stellen. Eine Frage, die ihr immer wieder entglitt. Mit einem Mal fiel sie ihr wieder ein. »Mein Name«, flüsterte sie, »wie ist mein Name?«

     
    Zu meiner großen Erleichterung bemerkte ich, dass Dr. Freud überhaupt nicht wie ein Verrückter aussah. Sein Gesicht war Respekt gebietend, sein Kopf wohlgeformt, sein Spitzbart geschmackvoll und
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