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Morddeutung: Roman (German Edition)

Morddeutung: Roman (German Edition)

Titel: Morddeutung: Roman (German Edition)
Autoren: Jed Rubenfeld
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Äußerlich bildeten sie einen lebhaften Kontrast. Brill war einer der kleinsten Männer, die ich kannte, mit eng stehenden Augen und einem breiten, flachen Schädel. Ferenczi war zwar auch nicht groß, aber er hatte lange Arme, lange Finger, lange Ohren und markante Geheimratsecken, die auch sein Gesicht verlängerten.
    Ferenczi war mir sofort sympathisch, wenngleich ich noch nie eine Hand geschüttelt hatte, die mir so wenig Widerstand entgegensetzte: weniger als ein Schweineschnitzel vom Fleischer. Aufjaulend riss er seine Finger weg, als wären sie zerquetscht worden. Peinlich berührt entschuldigte ich mich wortreich, doch er behauptete, froh darüber zu sein, gleich von Anfang an »amerikanische Mauern« kennenzulernen – eine Bemerkung, die ich nur mit einem höflichen Nicken quittieren konnte.
    Jung, der ungefähr fünfunddreißig war, machte einen völlig anderen Eindruck. Er war deutlich über eins achtzig groß, ernst, blauäugig und dunkelhaarig mit Adlernase, bleistiftdünnem Bart und mächtiger Stirn – sehr attraktiv für Frauen, wie ich vermutete, obwohl ihm Freuds Leichtigkeit fehlte. Sein Händedruck war fest und kalt wie Stahl. Mit seiner kerzengeraden Haltung hätte er auch ein Leutnant der Schweizergarde sein können, wenn er nicht seine kleine, runde Gelehrtenbrille aufgehabt hätte. Von Brills deutlich erkennbarer Zuneigung zu Freud und Ferenczi war nichts zu sehen, als er Jung die Hand reichte.
    »Wie war die Überfahrt, meine Herren?« Brill machte Konversation, weil die Schrankkoffer unserer Gäste noch nicht abgeladen waren. »Hoffentlich nicht zu anstrengend.«
    »Herrlich«, antwortete Freud. »Sie werden es nicht glauben, ich bin einem Steward begegnet, der meine Psychopathologie des Alltagslebens gelesen hat.«
    »Nein!« Brill war begeistert. »Bestimmt hat ihn Ferenczi angestiftet.«
    »Angestiftet?«, rief Ferenczi. »Wie kommen Sie auf diese …«
    Freud beachtete Brills Scherz nicht weiter. »Das war vielleicht der erfreulichste Augenblick meines gesamten Berufslebens, was womöglich kein besonders gutes Licht auf selbiges wirft. Langsam, aber sicher rückt die Anerkennung näher, meine Freunde.«
    »Hat die Überfahrt lang gedauert?« Bevor ich es verhindern konnte, war mir die idiotische Frage entschlüpft.
    »Eine Woche«, entgegnete Freud, »und wir haben sie auf die denkbar fruchtbarste Weise verbracht: Wir haben gegenseitig unsere Träume analysiert.«
    »Meine Güte«, rief Brill, »da wäre ich auch gern dabei gewesen. Zu welchen Erkenntnissen sind Sie gekommen, um Himmels willen?«
    »Na ja, Sie wissen«, erwiderte Ferenczi, »Analyse ist fast wie Ausziehen in Öffentlichkeit. Wenn man hat überwunden erste Beschämung, dann ist ziemlich erfrischend.«
    »Das sage ich meinen Patienten auch immer«, erklärte Brill. »Vor allem den Frauen. Und wie steht es mit Ihnen, Jung? Fanden Sie die Beschämung auch erfrischend?«
    Jung, der Brill um mehr als einen Kopf überragte, blickte auf ihn herab wie auf eine Laborratte. »Es ist nicht ganz richtig, dass wir drei uns gegenseitig analysiert haben.«
    »Stimmt«, räumte Ferenczi ein. »Freud hat uns analysiert, während Jung und ich haben gekreuzt Deutungsklingen.«
    »Was?«, rief Brill aus. »Sie meinen, niemand hat es gewagt, den Meister zu analysieren?«
    »Niemand hatte die Erlaubnis dazu.« Jungs Ton blieb völlig emotionslos.
    »Ja, ja.« Auf Freuds Lippen lag ein wissendes Lächeln. »Aber sobald ich euch den Rücken kehre, analysiert ihr mich zu Tode, stimmt’s, Abraham?«
    »Selbstverständlich«, antwortete Brill. »Wir sind alle gute Söhne und kennen unsere ödipale Pflicht.«

     
    In dem Apartment hoch über der Stadt lag auf dem Bett hinter dem gefesselten Mädchen ein kleines Arsenal von Werkzeugen bereit. Von links nach rechts waren das: ein halb aufgeklapptes Rasiermesser mit Beingriff, eine ungefähr sechzig Zentimeter lange schwarze Reitgerte, drei der Größe nach geordnete Skalpelle und ein kleines, mit einer klaren Flüssigkeit halb gefülltes Fläschchen. Nach kurzer Überlegung nahm der Angreifer eines der Instrumente in die Hand.
    Als sie den flackernden Schatten des Rasiermessers an der gegenüberliegenden Wand bemerkte, schüttelte die junge Frau den Kopf. Wieder wollte sie aufschreien, doch aus ihrer zugeschnürten Kehle drang nur ein flehendes Flüstern.
    Von hinten hörte sie eine leise Stimme: »Soll ich noch warten?«
    Sie nickte.
    »Ich kann nicht.« Die Handgelenke des Opfers, die gekreuzt
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