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Morddeutung: Roman (German Edition)

Morddeutung: Roman (German Edition)

Titel: Morddeutung: Roman (German Edition)
Autoren: Jed Rubenfeld
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dezent. Er war gut eins siebzig groß, eher rundlich, doch für einen Mann von dreiundfünfzig Jahren ziemlich kräftig und fest. Er trug einen Anzug aus feinem Tuch mit einer Taschenuhr und einer Krawatte im europäischen Stil. Alles in allem wirkte er ausgesprochen entspannt für jemanden, der gerade eine einwöchige Schiffsreise hinter sich hatte.
    Mit seinen Augen war das ganz etwas anderes. Brill hatte mich bereits gewarnt. Als Freud den Landungssteg herunterkam, lag ein geradezu furchterregender Ausdruck in seinem Blick, als hätte er äußerst üble Laune. Vielleicht hatten ihm die Verleumdungen, die er in Europa schon seit Langem zu ertragen hatte, diesen finsteren Blick ins Gesicht gemeißelt. Oder er war schlechterdings unglücklich darüber, in Amerika zu sein. Als Präsident Hall von der Clark University – an der ich lehrte – Freud vor einem halben Jahr zum ersten Mal in die Vereinigten Staaten eingeladen hatte, gab er uns einen Korb. Wir wussten nicht, weshalb. Doch Hall ließ nicht locker. Er teilte Freud mit, dass wir die Absicht hatten, ihm den höchsten akademischen Grad der Clark University zu verleihen und ihm als Höhepunkt der Feierlichkeiten zum zwanzigsten Jahrestag der Gründung die Gelegenheit zu einer Vorlesungsreihe über Psychoanalyse zu bieten – die erste überhaupt in Amerika. Schließlich nahm Freud an. Bedauerte er seine Entscheidung bereits?
    Wie ich bald feststellte, waren all diese Vermutungen unbegründet. Als er von der Gangway trat, zündete sich Freud eine Zigarre an – seine erste Handlung auf amerikanischem Boden -, und im selben Moment verschwand die finstere Miene, ein Lächeln erschien auf seinem Gesicht, und alle Gereiztheit war verflogen. Tief inhalierend blickte er sich um und ließ mit leiser Belustigung, wie es schien, das lärmende Treiben in dem großen Hafen auf sich wirken.
    Brill begrüßte Freud voller Herzlichkeit. Sie kannten sich aus Europa, und Brill hatte Freud sogar einmal in Wien besucht. Er hatte mir diesen Abend so oft beschrieben – das bezaubernde, mit Antiquitäten gefüllte Haus, die süßen, verhätschelten Kinder, die sich über Stunden hinziehende, mitreißende Unterhaltung -, dass ich die Anekdoten darüber schon auswendig konnte.
    Wie aus dem Nichts erschien eine Gruppe von Reportern. Sie versammelten sich um Freud und riefen ihm, zumeist auf Deutsch, ihre Fragen zu. Er antwortete bereitwillig, schien jedoch verblüfft, dass man das Interview auf so planlose Weise führte. Endlich verscheuchte Brill die Journalisten und schob mich nach vorn.
    »Erlauben Sie, Dr. Freud, dass ich Ihnen Dr. Stratham Younger vorstelle, der vor Kurzem sein Studium in Harvard abgeschlossen hat und jetzt an der Clark University unterrichtet. Präsident Hall hat ihn geschickt, damit er sich während Ihres Aufenthalts in New York um Sie kümmert. Younger ist ohne jeden Zweifel der begabteste Psychoanalytiker Amerikas. Allerdings ist er bis jetzt auch der einzige .«
    »Was«, rief Freud, »Sie bezeichnen sich nicht als Analytiker, Abraham?«
    »Ich bezeichne mich nicht als Amerikaner«, erwiderte Brill. »Ich bin einer von Mr. Roosevelts ›Bindestrich-Amerikanern‹, für die es seiner Ansicht nach keinen Platz in diesem Land gibt.«
    In ausgezeichnetem Englisch wandte sich Freud jetzt an mich. »Ich bin immer erfreut, ein neues Mitglied unserer kleinen Bewegung kennenzulernen, vor allem hier in Amerika, auf das ich so große Hoffnungen setze.« Er bat mich, Präsident Hall für die Auszeichnung zu danken, die ihm die Clark University verliehen hatte.
    »Es ist uns eine Ehre, Sir«, antwortete ich, »doch kann ich wohl kaum für mich in Anspruch nehmen, Psychoanalytiker zu sein.«
    »Reden Sie keinen Unsinn«, mischte sich Brill ein, »natürlich sind Sie einer.« Dann wandte er sich Freuds Reisegefährten zu. »Younger, ich darf Ihnen den berühmten Sándor Ferenczi aus Budapest vorstellen, der in ganz Europa für seine Forschungen zu Geisteskrankheiten hohes Ansehen genießt. Und hier ist der noch berühmtere Carl Jung aus Zürich, dessen Psychologie der Dementia Praecox eines Tages in der gesamten zivilisierten Welt bekannt sein wird.«
    »Sehr erfreut«, sagte Ferenczi mit starkem ungarischem Akzent, »sehr erfreut. Aber bitte Sie ignorieren Brill; alle tun das, ich kann versichern.« Ferenczi war ein umgänglicher rotblonder Mann Ende dreißig, der einen weithin leuchtenden weißen Anzug trug. Es war zu erkennen, dass er und Brill echte Freunde waren.
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