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Morddeutung: Roman (German Edition)

Morddeutung: Roman (German Edition)

Titel: Morddeutung: Roman (German Edition)
Autoren: Jed Rubenfeld
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Detectives hatte der Verwalter die junge Frau in sein Büro gerufen und ihr einen Umschlag mit ihrem Monatslohn überreicht – abzüglich eines Tages, versteht sich, denn es war ja erst der 30. August. Er teilte ihr mit, dass sie gekündigt war. »Tut mir leid, Betty. Tut mir wirklich leid.«

     
    Bevor die anderen aufgestanden waren, ging ich die Morgenzeitungen durch. Ich saß unten in der opulenten Rotunde des Hotel Manhattan, in dem die Clark University Freud, Jung, Ferenczi und mich für die Woche untergebracht hatte. (Brill wohnte in New York und brauchte daher kein Hotelzimmer.) Keine der Zeitungen enthielt einen Artikel über Freud und seine bevorstehenden Vorlesungen an der Clark University. Lediglich die New Yorker Staats-Zeitung brachte eine kleine Meldung, die die Ankunft eines »Dr. Freund aus Wien« bekannt gab.
    Eigentlich hatte ich nie die Absicht gehabt, Arzt zu werden. Es war der Wunsch meines Vaters, und sein Wunsch galt in der Familie als Befehl. Als ich achtzehn war und noch im Haus meiner Eltern in Boston lebte, erzählte ich ihm, dass ich der größte amerikanische Shakespeare-Gelehrte werden wollte. Seinetwegen konnte ich der kleinste Shakespeare-Gelehrte werden, erwiderte er, aber ob groß oder klein, wenn ich keine medizinische Karriere einschlug, dann musste ich eben selbst Mittel und Wege finden, um die Studiengebühr in Harvard zu bezahlen.
    Diese Drohung ließ mich völlig kalt. Der Harvard-Spleen unserer Familie konnte mir gestohlen bleiben, und ich war jederzeit gern bereit, so ließ ich meinen Vater wissen, meine Ausbildung anderswo zu beenden. Das war das letzte längere Gespräch, das ich je mit ihm geführt habe.
    Paradoxerweise kam ich dem Wunsch meines Vaters tatsächlich nach, doch erst, als er kein Geld mehr hatte, das er mir hätte vorenthalten können. Der Zusammenbruch von Colonel Winslows Bankhaus im November 1903 war nichts im Vergleich zu der Panik in New York vier Jahre später, aber für meinen Vater reichte es. Er verlor sein gesamtes Vermögen, einschließlich des kleinen Anteils meiner Mutter. In einer einzigen Nacht alterte sein Gesicht um zehn Jahre; tiefe Furchen hatten sich von heute auf morgen in seine Stirn gegraben. Meine Mutter bat mich um Mitleid für ihn, doch ich konnte mich nicht dazu überwinden. Bei seiner Beerdigung – die von den mitfühlenden Bostonern großräumig gemieden wurde – wurde mir zum ersten Mal klar, dass ich mit Medizin weitermachen würde, falls ich mein Studium überhaupt fortsetzen konnte. Ob es ein neu gefundener Pragmatismus war, der mich zu diesem Entschluss bewog, vermag ich nicht zu sagen.
    Letztlich war ich es, der Mitleid nötig hatte, und Harvard, das mir dieses Mitleid entgegenbrachte. Nach dem Begräbnis meines Vaters verständigte ich die Universität von meiner Absicht, zum Jahresende auszuscheiden, da die Studiengebühr von zweihundert Dollar nun weit jenseits meiner Mittel lag. Doch Präsident Eliot verzichtete auf die Gebühr. Möglicherweise war er der Ansicht, den langfristigen Interessen von Harvard sei besser damit gedient, wenn der dritte Stratham Younger, der durch diese heiligen Hallen schritt, nicht sang- und klanglos hinausgeworfen wurde, sondern Gelegenheit erhielt, sich für seine Alma Mater auszuzeichnen. Welche Beweggründe auch dahintersteckten, ich werde Harvard für immer dankbar sein, dass ich mein Studium weiterverfolgen durfte.
    Nur in Harvard war es mir möglich, Professor Putnams berühmte Vorlesungen über Neurologie zu besuchen. Nach Erlangung eines Stipendiums war ich inzwischen Medizinstudent, erwies mich jedoch als eher uninspirierter zukünftiger Doktor. An einem Frühlingsvormittag zitierte Putnam in einer ansonsten staubtrockenen Darstellung der Nervenkrankheiten Sigmund Freuds »Sexualtheorie« als die damals einzige interessante Auseinandersetzung mit dem Thema Hysterie und Zwangsneurosen. Nach der Vorlesung fragte ich Putnam nach einschlägigen Texten. Er verwies mich auf Havelock Ellis, der die zwei radikalsten Entdeckungen Freuds übernommen hatte: die Existenz des von Freud so bezeichneten »Unbewussten« sowie die sexuelle Ätiologie der Neurose. Außerdem stellte mich Putnam auch Morton Prince vor, der damals gerade sein Fachjournal über abnormale Psychologie gegründet hatte. Dr. Prince verfügte über eine umfangreiche Sammlung ausländischer Publikationen, und es stellte sich heraus, dass er meinen Vater gekannt hatte. Prince ließ mich als Korrekturleser für sich arbeiten.
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