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Moerderische Schaerennaechte

Moerderische Schaerennaechte

Titel: Moerderische Schaerennaechte
Autoren: Viveca Sten
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Seine Glieder schmerzten und sein Gleichgewichtssinn spielte verrückt. Wie immer, wenn er erschöpft war, vergaß er, dass er den Fuß anders aufsetzen musste als vor seinem Unfall.
    »Kehr um«, murmelte er vor sich hin, »es ist Wahnsinn, dass du allein hier bist. Du schaffst das nicht.«
    Er dachte an seine neue Familie, an das kleine Leben, das noch in Pernillas schützendem Bauch schlief. Sie hatten Vorrang vor allem anderen, egal was passierte.
    Da sah er sie wieder, nur fünfzig Meter vor ihm. Sie verharrte ganz still neben dem verwitterten Gefechtsstand, unter sich das tobende Meer.
    Die Wellen schlugen gegen die Klippen und brachen sich in schäumenden Kaskaden, fielen in sich zusammen und rasten erneut gegen sie an. Unablässig spülte das Wasser über die Felsen.
    Erneut beleuchtete ein kräftiger Blitz die Szene, und Thomas sah, dass Annika Melin weinte. Ihr Gesicht war verzerrt, und der Sturm riss an ihren nassen Haaren, die auf ihrem Rücken flatterten wie die Flügel eines Vogels, der sich aus dem Nest zu retten versucht.
    Sie war in dem grellen Blitz deutlich zu erkennen, aber zwischen ihnen lag ein breiter Abgrund, der unmöglich zu überwinden war. Er musste zurück und um den Felsvorsprung herumlaufen.
    Thomas machte abrupt kehrt und sprang von einem Stein zum anderen, um die Klippe zu erreichen, auf der sie stand. Durch das Astwerk erkannte er, dass Annika Melin einige Schritte vorwärts machte. Jetzt stand sie am äußersten Rand der Betonbrüstung. Der starke Wind ließ sie schwanken, aber sie wich nicht zurück.
    Anscheinend weinte sie nicht mehr so heftig, ihre Gesichtszüge wirkten jetzt glatter und der Mund war nicht mehr so verzerrt.
    Thomas kämpfte sich vorwärts, so schnell er konnte. Er kam ihr immer näher und versuchte ihr zuzurufen, dass sie auf ihn warten sollte.
    »Sie brauchen nicht zu sterben, nicht Sie auch noch, es reicht jetzt«, wollte er schreien. Aber er war so außer Atem, dass seine Stimme keine Kraft hatte. Die Worte drangen nicht bis zu ihr vor. Sie ertranken im Lärm der hohen Wellen, die sich immer noch fauchend und zischend gegen die Klippen warfen.
    Thomas versuchte, seinen Beinen zu befehlen, schneller zu laufen; nur noch wenige Schritte, dann würde er sie erreicht haben. Es war noch Zeit, es war noch nicht zu spät.
    Annika Melin streckte die Arme nach vorn, als versuchte sie, etwas zu umarmen. Oder als wollte sie ihren Sturz abfedern. Die Felsen waren hart.
    Panik ergriff Thomas, er musste sie aufhalten.
    Mit einem Satz überwand er den letzten Meter und streckte die Hand aus, um sie am Bein zu packen. Seine Finger versuchten, den Hosenstoff zu fassen, er spannte die Muskeln aufs Äußerste an und berührte mit den Fingerspitzen etwas Nasses. Aber das Nasse glitt ihm aus den Händen, er schaffte es nicht, das Bein zu packen, das Einzige, was er zu fassen bekam, war leere Luft.
    Annika Melin fiel.
    Sie stürzte mit dem Kopf voran in die Tiefe.
    Ein dumpfes Geräusch drang an Thomas’ Ohr. Oder nicht? Das Rauschen der Wellen und das Sturmgeheul verwirrten ihn. Er lag auf der harten Klippe, zusammengekauert, und versuchte, zu Atem zu kommen.
    Die Zeit verging.
    Er wusste nicht, wie lange er so dagelegen hatte. Seine Wange ruhte auf nassem Laub, und langsam wurde ihm kalt. Sein Körper fühlte sich taub an, er sollte besser aufstehen und nachsehen, was mit Annika Melin passiert war, aber er konnte nicht.
    Es waren mindestens zehn Meter bis zu dem Felsvorsprung unter ihm. Sie musste sich zu Tode gestürzt haben.
    Ein Schluchzen schüttelte Thomas, er ließ den Kopf wieder auf den nassen Untergrund fallen und schloss die Augen, während er versuchte, sich das Weinen zu verbeißen.
    Seine Hand tastete nach einem Stein.
    Er umklammerte ihn so fest, dass sich die scharfen Kanten in die Handfläche gruben. Der Schmerz erweckte ihn wieder zum Leben und zwang ihn, sich zusammenzureißen und zurückzukehren und die Augen wieder aufzuschlagen.
    Er rollte sich herum und kam auf die Knie. Es dauerte eine Weile, bis die Augen sich an die Dunkelheit gewöhnt hatten.
    Er musste nachsehen, ob sie noch lebte.

Tagebucheintrag August 1977
    Ich weiß nicht, ob ich es über mich bringe, aufzuschreiben, was passiert ist. Ich bin genauso schuldig wie die anderen. Ich weiß nicht, ob ich das schaffe.
    Das hier werde ich niemals jemandem erzählen können.
    Drei Tage ist es her, seit der Uffz uns mitten in der Nacht aus dem Bett gerissen hat. Es war spät, schon ein gutes Stück nach
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