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Mörder im Zug

Mörder im Zug

Titel: Mörder im Zug
Autoren: Frank Goyke
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und er hatte einen nervösen Eindruck gemacht. Solche Fahrgäste traf Sokolowski öfter.
    Nun begab sich der Mann mit eingezogenem Kopf durch den Schneeregen zur Anschlagtafel, an der einst Fahrpläne befestigt worden waren. Viele kleine, Pläne abreißende Davids hatten irgendwann den Kampf gegen den Goliath Deutsche Bahn gewonnen. Die sinnlose Tafel ruhte auf zwei Stahlträgern, die zumindest noch zwei Fahrrädern Halt boten. Um 21:56:02 schloss die Tür.
    Sokolowski setzte seine letzte Runde fort und überlegte, ob für die Strecke durch den Zug dieser Ausdruck überhaupt passte. »In Kürze erreichen wir Rostock Hauptbahnhof«, schnarrte es aus den Lautsprechern, als er den ersten Wagen betrat.
    Auf der Treppe zum Oberdeck war Blut.

I SCHNEE
    Im Kinderzimmer wurde geschossen.
    Jonas Uplegger seufzte. Er legte Nedopils Forensische Psychiatrie auf den Glastisch, ein Buch, das er geradezu obsessiv wieder und wieder zur Hand nahm, ohne wirklich zu verstehen, was er da las. Dieses Wortgeklingel: »Reliabilität der Diagnose, faktorenanalytische Typenbildung, Einteilungsansatz dimensional / kategorial«, was sollte das? War das nicht alles bloße Wichtigtuerei und Täuschung, der Versuch, unter einem Schwall von Begriffen zu verbergen, dass man über die Seele des Menschen so gut wie nichts wusste?
    Uplegger war seit langem der Überzeugung, dass die Krone der Schöpfung Pfusch war. Im Menschen hatte sich die Evolution nicht vollendet, sondern die Grenze zur Fehlfunktion überschritten. Die menschliche Apparatur war wie alle komplizierten Maschinen in höchstem Maße störanfällig. Ein kaputtes Zahnrad ließ sich mit einfachen Handgriffen auswechseln. Die Seele hingegen bestand quasi aus nichts. Und doch konnte dieses Ding weitaus stärker schmerzen als der Körper, der im Grunde nicht viel mehr war als ein fleischliches Wasserfass.
    Die Schießerei im Kinderzimmer nahm kein Ende. Jonas Uplegger entschied sich für einen pädagogischen Eingriff. Also erhob er sich von seiner weißen Ziegenledercouch, schritt über den weißen Flokati und trat in die Diele. Dort wandte er sich nach rechts, ging sehr langsam auf die Tür mit der Aufschrift Eintritt nicht nur für Schneider verboten! zu, klopfte an, wartete, klopfte erneut, öffnete dann behutsam die Tür und sah Marvin dort, wo er ihn erwartet hatte, nämlich vor seinem PC, den Controller in beiden Händen.
    Der Junge trug noch das verschwitzte blau-weiße Trikot von Motor Warnow , und er tötete. Sein verkrampfter schmaler Körper zeigte die ganze Anstrengung, die das Töten erforderte, aber auch die Lust, mit der er auf schwerbewaffnete Wesen ballerte; anders konnte man sie nicht bezeichnen, da sie von Kopf bis Fuß in einer alles verhüllenden Hightech-Rüstung steckten. In der Zeitschrift für Kriminalistik und Kriminologie wurden diese Spiele gern als Auslöser von Gewalttaten bezeichnet, von Mord, gar von Amokläufen. Uplegger hielt das für übertrieben, schließlich stammte der Mord aus biblischen Zeiten, und Amokläufe gab es vor allem deshalb, weil einer mit ihnen angefangen hatte: Der Ur-Amoklauf rief dauerhaft eine Reihe von Kopisten auf den Plan.
    Uplegger wusste, dass sein 13-jähriger Sohn die Anwesenheit des Vaters spürte und nur noch so tat, als würde das Spiel ihn fesseln.
    »Marvin!«
    »Ja, Papa?« Der Junge vollführte eine Vierteldrehung auf seinem Schreibtischstuhl. Er hatte jene Unschuldsmiene aufgesetzt, mit der er jedermann um den Finger wickelte, und seine blauen Augen, angeblich Spiegel der Seele, verrieten nicht die geringste Gemütsbewegung. Marvin war nicht nur das sprichwörtlich stille, aber tiefe Wasser, er hatte es faustdick hinter den Ohren. Mit seiner scheinbaren Unschuld, seinem Charme und seiner noch kindlichen Schönheit gelang es ihm, dass sowohl Weiblein als auch Männlein schwach wurden. Uplegger unterdrückte die Schwäche und kehrte den großen Erzieher heraus, fand aber nur einen missglückten Anfang: »Setz dir wenigstens Kopfhörer auf!« Das hatte er gar nicht sagen wollen. Der Kampf um die Macht war eröffnet.
    »Dann macht es nicht so viel Spaß«, erwiderte Marvin und klimperte mit den langen, blonden Wimpern. Weniger gestählte Naturen hätten jetzt schon den Rückzug eingeleitet.
    »Ja, was denn?« Uplegger trat einen Schritt näher. »Du willst also wieder Herrn Kirsch provozieren?« Das war der Nachbar, dessen Schlafzimmer an Marvins Zimmer grenzte. Kirsch ging nie vor Mitternacht ins Bett, und wenn er alle
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