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Mörder im Zug

Mörder im Zug

Titel: Mörder im Zug
Autoren: Frank Goyke
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dafür, dass niemand über die Stränge schlug. Das war bitter nötig, denn die Fahrgäste wurden immer verrückter.
    Genau genommen traf das auf alle Menschen zu. Früher war ihm das nicht aufgefallen, aber der Dienst hatte seine Sinne geschärft. Überall entdeckte er nun Zeichen von unheilbarer Unzufriedenheit, Wut und Hass, von Aggressivität und Geistesgestörtheit: auf der Straße und an den Kassen der Supermärkte, im Bus oder in der Straßenbahn, in der Videothek, wo die Einsamen sich Mittel zur Beschwichtigung ihrer Triebe verschafften, in der Stammkneipe, wo er sein Feierabendbier trank; es gab keinen Ort, an dem sich der alltägliche Wahnsinn nicht ausbreitete.
    Da waren diese beiden muskelbepackten Typen in Wagen zwei, die in Schwaan eingestiegen waren und nichts Eiligeres zu tun hatten, als ihr Sitzabteil mit Bierbüchsen und Taschenflaschen in eine Kneipe zu verwandeln. Zweifelsohne gingen sie auf die Vierzig zu und hatten sich bereits ansehnliche Bäuche zugelegt. Sie steckten in Lederjacken, wie sie Motorradfans zu tragen liebten, hatten sich Glatzen rasiert, und auf ihren Stiernacken prangten Tätowierungen. Jedem Tierchen sein Pläsierchen – dagegen hatte Sokolowski nichts. Es war nicht verboten, in der Bahn Alkohol zu trinken, das Rauchen aber war nicht erlaubt. Doch genau in dem Moment, als er das Oberdeck betreten hatte, hatten sie ihre Selbstgedrehten angezündet, eindeutig eine Provokation, mit der sie ihm zeigten, wie sehr sie ihn, seinen Job und seine Uniform verachteten. Sokolowski hatte seine Wut hinuntergeschluckt und sich gesagt, dass die beiden nur kleine Lichter waren, die sich wichtig machen wollten.
    Natürlich hatte er Schulungen besuchen müssen, bevor man ihn als Bahnschützer einsetzte, doch das waren eher Notlehrgänge gewesen als eine richtige Ausbildung. Ruhiges, höfliches, aber bestimmtes Auftreten – jeder Referent, der vermutlich pro Lektion mehr kassierte als ein Wachmann im ganzen Monat, hatte diese Phrase gedroschen. Im Alltag nützte sie fast nie. »Männer«, hatte Sokolowski gesagt, weniger höflich und bestimmt als vertraulich und bittend, »ihr wisst doch, dass Quarzen verboten ist. Macht mir bitte keinen Ärger.«
    Und was war geschehen? Die Stiernacken hatten ihm zugeprostet und gelacht. Das war alles. Sie hatten ihn keiner Antwort für würdig befunden und die Zigaretten brennen lassen. Und Sokolowski war einfach weitergegangen. Verstohlen hatte er ein Fenster geöffnet und gemacht, dass er fortkam.
    Nun ärgerte er sich über sich selbst, aber er war allein und hatte mit Mitte Fünfzig nicht mehr die Kraft, sich gegen jede Herausforderung zu wehren. Außerdem hatte er dem Wahnsinn etwas entgegenzusetzen: Zahlen. Zahlen wurden nicht verrückt. Sie repräsentierten die Ordnung, hatten eine unverrückbare Position inne, ob nun auf einem Strahl oder in einem Koordinatensystem, wenn nicht gar im Universum.
    Sokolowski sah auf die Uhr: 21:54:09. In 51 Sekunden müsste Zug Nummer 9511 Papendorf erreichen.
    Die Stadtbahn der Linie 2 verkehrte zwischen Güstrow und Warnemünde via Rostock Hauptbahnhof. Auf der Kursbuchstrecke 182 bediente sie bei einer Fahrzeit von 54 Minuten 17 Haltepunkte. Sokolowski hatte alle Abfahrtzeiten im Kopf, er wusste, dass der Zug von einer E-Lok der Baureihe 243 geschoben oder – in der Gegenrichtung – gezogen wurde, und nun war er dabei, die Fahrgestellnummern auswendig zu lernen. Obwohl er alle wichtigen Telefonnummern auf seinem Handy hatte, brauchte er den Speicher nie. Auf sein Zahlengedächtnis war er stolz, er hatte sonst wenig, auf das er stolz sein konnte.
    Der Zugführer bremste. Sokolowski trat an die Doppeltür, legte den rechten Zeigefinger auf den Öffner. 9511 rollte aus.
    Draußen war es ungemütlich. Immer mehr Schnee mischte sich in den Regen, und der kräftige Wind zwang Sokolowski, seine Schirmmütze festzuhalten. Dies war seine letzte Fahrt für heute. Er würde sofort nach Hause gehen, ohne den kleinen Umweg zu seiner Kneipe. Daheim einen Grog mixen, die Beine hochlegen, sich vor den Fernseher fläzen – mehr Paradies brauchte er nicht an einem solchen Abend.
    Aus dem Steuerwagen kletterte ein Mann mittleren Alters. Er war barhäuptig und hatte langes, ungepflegt wirkendes Haar, in das sofort der Wind fuhr; dass er auch einen Bart trug, wusste Sokolowski nur, weil er schon zwischen Güstrow und Schwaan durch den Zug gegangen war. Der Mann hatte im Zwischendeck gesessen, nahe der Tür am Übergang zu Wagen zwei,
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