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Mörder im Zug

Mörder im Zug

Titel: Mörder im Zug
Autoren: Frank Goyke
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angetrunkene, ewig nach Suff, Schweiß, Urin und Hühnerkot stinkende und gewalttätige Mann, ihr angeblicher Erzeuger, hatte sie nie wirklich gesehen, weil sie kein Junge geworden war, kein Stammhalter oder was immer er erwartet hatte. Barbara riss eine Büchse auf. Sie hatte sich vollgefressen, hatte sich breit und immer breiter und damit unübersehbar gemacht, aber er hatte sie nicht wahrgenommen. Nur einmal, irgendwelche Saufkumpane aus der Eierfabrik waren zu Besuch, hatte er gesagt: »Dieses fette Ding ist nicht meine Tochter. Die muss der Esel im Galopp verloren haben.« Und um das zu unterstreichen, hatte er Mama ins Gesicht geschlagen. Nichts Besonderes. Alltag. Dazu war eine Frau seiner Ansicht nach da: Malochen, damit genug Geld versoffen werden konnte, Putzen, Kochen, Zuhören, wenn er in weinerlicher Stimmung auf alles und jeden schimpfte – und den Kopf hinhalten, wenn er zuschlug.
    Hatte sie ihn gehasst? Nein: Obwohl sie ihn nie Vati oder Papa genannt hatte, hatte sie doch alles getan, um seine Aufmerksamkeit und seine Liebe zu erringen. Sie hatte ihm den Schnaps gebracht. Sie hatte seine mistigen Stiefel auf Hochglanz poliert. Sie hatte ihm zugestimmt, wenn er Mama eine Sau genannt hatte, was der unendlich wehgetan hatte. Natürlich hatte er sie dann angeschaut, hatte sie sogar gelobt, aber in Wahrheit war sein Blick durch sie hindurchgegangen, wie er durch alle Menschen hindurchging. Wahrscheinlich hatte er irgendwo hinter dem Tochtergespenst den ihm verwehrten Sohn gesehen, den er nie mehr würde haben können, weil der Alkohol ihn impotent gemacht hatte; das hatte sie aber erst nach seinem Tod erfahren, der so monströs gewesen war wie er selbst. Denn diesen Mann, ein Geschwür der Mutter Erde, hatten Geschwüre aufgefressen. Und wenn er sich vor Schmerzen krümmte, hatte sie auch noch Mitleid mit ihm gehabt.
    Der Hass war erst später gekommen. Barbara kippte Fusel, bevor sie sich an die nächste Bierbüchse machte. Schaum quoll über ihre Hand. Es war ein rückwärtsgewandter, ein leichenschänderischer Hass, und er hatte sich nicht nur auf den Alten bezogen, sondern auch auf den Ort, an dem sie aufgewachsen war und den Mama mit ihr verlassen hatte, kaum dass er unter der Erde war: Hass auf Grevesmühlen, dieses Nest, diese Klitsche, dieses absurde Städtchen, in dem Kinder am Sonntag in ihren Sonntagsstaat gestopft wurden, nur für die Leute. Dann wurden die Kinder ausgeführt wie Hunde, dann wurden sie vorgeführt, und man musste höflich sein zu all denen, die einem über den Weg liefen, und man musste sagen, wie schön so ein Sonntagsspaziergang war, und man musste sagen, dass man gut war in der Schule. Apportieren musste man nicht.
    Barbara schwankte zum CD-Ständer, riss eine Scheibe heraus, riss andere mit, die zu Boden fielen. Bruno floh in die Küche. Ihm reichte es schon, ihr noch lange nicht.
    Hinunter musste sie, hinunter wollte sie, in die Dunkelheit, ins Vergessen.
    Alles für die Leute, ein Leben nur für den guten Ruf. Für den guten Ruf putzte man die Fenster, stellte man Blumenkästen auf, harkte man ein 50-cm-Muster um die Gräber. Für den guten Ruf schminkte Mama ihre Wunden weg, nahm sie die Hand ihres Mannes, wenn er sich denn einmal zu einem Spaziergang bewegen ließ, und sie tat es, obwohl sie wusste, dass alle Leute wussten. Barbaras Erzeuger war stadtbekannt, nicht wegen einer besonderen Leistung, sondern weil es in Grevesmühlen gar nicht möglich war, unbekannt zu bleiben.
    Für den guten Ruf ging man über Leichen. Man mordete keine Menschen, sondern Seelen. Man mordete den ganzen Tag: unpassende Gefühle, schräge Ideen, adipöse Mädchen, angeblich falsche Freundschaften, die Liebe, alles. Der gute Ruf war heilig. Er war der einzige Gott – nach dem Mammon.
    Barbara schob die CD in den Schacht. Mit voller Lautstärke dröhnte es durch die Wohnung, ein Titel aus ihrer Jugend, die es gar nicht gegeben hatte:
    Ich bin so hässlich, ich bin der Hass.
    Als sie nach Rostock gezogen waren, in die Margaretenstraße, hatte Barbara gehofft, ein neues Leben würde beginnen, aber es war das alte, das sich fortsetzte. Ohne Freunde in der großen Stadt, ohne Interesse für ihre kulturellen Angebote, ohne Lust am Leben hatte Mama zu trinken begonnen und seufzte im berauschten Zustand dem Alten hinterher, der plötzlich gar nicht so schlecht gewesen war. Der doch auch seine guten Seiten gehabt und immer für die Familie gesorgt hatte. Das dumpfe Vieh wurde zur Lichtgestalt.
    Ich
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