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Mobile Röntgenstationen - Roman

Mobile Röntgenstationen - Roman

Titel: Mobile Röntgenstationen - Roman
Autoren: ATHENA-Verlag e. K.
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Kräfte, so munter, weltoffen und neugierig, dass ich auf der Straße nicht nur einen Spatzenschwarm wahrnahm, sondern auch noch Mädchenbeine, einen verlorenen Rubel, den vorbeiradelnden, bärtigen Künstler Mecčislovas, ein Stück Himmel zwischen den Mauern. Und gleichzeitig beantwortete ich noch hundert Fragen der mich umarmenden Blondine. Auch mir selbst bleibt nur Staunen, ein großartiges, berauschendes Gefühl! Ich kann mich nicht genug wundern, dass ich elementar, liederlich, verantwortungslos lebte, ständig die elementarsten Konventionen, Versprechungen, Gelübde und Schwüre brach, instabil, ungesund und ziemlich trist und dennoch ein halbes Jahrhundert erreichte und hustend in die herbstliche Dunkelheit spreche: Oh, vor einem Vierteljahrhundert! Beinahe eine Ewigkeit ist es her! In einem gewissen Sinne ist das ungerecht. Wie viele, die mehr wert sind als ich, hat es erwischt: auf Straßen, bei diversen Katastrophen, Kriegen, in Wüsten und Bergen! Die um einiges jünger waren und es nicht schafften sich auszusingen, eheliche oder uneheliche Kinder zu hinterlassen. Kamen um, erhängten sich, ertranken, verschwanden spurlos, um die Unabhängigkeit nicht mehr zu erleben, drei Hektar sandiger Erde Kompensation und zugleich ein Dokument, dass der Vater oder Großvater wirklich nicht zusammen mit den Deutschen an einer Strafexpedition teilgenommen hatte oder später, mit einer russischen MP behängt, einen Tross der Roten sicherte oder ein Wahllokal. Denke ich über mein Roman-Personal nach, das sich vorzeitig davonmachte in eine bessere Welt, überkommt mich ein heiliger Schrecken. Indes, das Wissen, dass alles folgerichtig ist und unwiderrufbar, zwingt einen, ruhiger zu atmen, rhythmischer. Und die Versuche, ein weiteres Mal seine Feinde zu lieben, scheinen sogar Früchte zu tragen.
    Schlimm, wie schnell so ein Herbsttag vorüber ist. Du stehst auf, in mieser Stimmung, weil es regnet, weil selbst der im Hof kläffende Hund einen Schnupfen hat, weil der Nachbar den Motor seines klapprigen Gefährts so lange laufen lässt, dass sich die Lufttemperatur des ganzen Viertels um ein Grad erwärmt. Dann erledigst du das eine oder andere, erklärst irgendjemandem, nicht schuld zu sein an den Gräueln auf dem Balkan, der ungerechten Vergabe des Nobelpreises an Scharlatane und Pasquillenschreiber, schlägst dich (zumindest in Gedanken) mit der neuen Werteskala herum, der ungleichen Verteilung von Lebensmitteln, in der Gesellschaft wie im eigenen Organismus, erklärst, dass nicht du die Mehrwertsteuer erfunden hast. Und da ist noch das Problem des Transports von radioaktiven Abfällen an sichere Orte. Am Ende siehst du: Draußen ist es bereits stockdunkel, die Sterne noch nicht angeknipst, und während du noch vorm Einschlafen einen weiteren sinnlos verbrachten Tag verfluchst, da rasselt schon wieder das Telefon. Eine kaum zu identifizierende Stimme erkundigt sich munter: Du, sag mal, willst du uns nicht helfen, Reklame zu machen für unsere Möbel? Ich ruf aus Briansk an, hier ist unser Stab. Also, ich stell mir das so vor: Ein alter Pobeda , die Möbel und du auf der Titelseite , na? – Bratsk, Briansk, Brest, Breslau, Bratislava, Brno, Bilbao, alles ein und dieselbe Teufelei! Dabei weiß der Hundesohn doch, dass in diesen Breiten hier, nach dem Abendgebet, alle Schäflein schlafen. Briansk! Was hab ich in diesem Briansk verloren? Die Zeile eines russischen Barden kommt mir in den Sinn: A moj tovarišč seryj brianskij volk! [4] Und am Telefon, wie sich bald herausstellt, nicht irgendwer, sondern Giunteris Bernšteinas, Regisseur und zugleich furchtloser Erforscher des östlichen Marktes, sonst ein angenehmer und gesprächiger Mensch. Das ist kein Tag mehr, das wird auch keine Nacht! Schon weckt mich ein weiterer Anruf: Du schläfst? Entschuldigung  … Und diese Stute erklärt auch noch anderen die Benimmregeln . Was noch: Empfehlungen für den Pulitzerpreis und die Kudirka-Prämie. Dann Wohlfahrtshilfe, für kurzzeitig aus dem Gefängnis entlassene Laienkünstler. Maler etwa? Die verlangen nichts weiter als Amareto (so nennt sich jetzt das zu Sowjetzeiten populäre Parfüm »Trojnoj«)! Ein Elend weit und breit. Hätte das vor einem Vierteljahrhundert passieren können oder noch früher, in den Hochzeiten des Aufbaus des Kommunismus? Wie immer man es sehen mag, die Grube für diesen Bau war so tief ausgehoben, dass auch heute noch der eine oder andere hineinfällt und dann aus voller Kehle um Hilfe ruft. Fast alle
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