Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Mobile Röntgenstationen - Roman

Mobile Röntgenstationen - Roman

Titel: Mobile Röntgenstationen - Roman
Autoren: ATHENA-Verlag e. K.
Vom Netzwerk:
dagegen ein wahres Zeichen der Verehrung zu sein. Venislovas war ein umgänglicher Mann mit guter Figur, nicht ohne Humor. Gern zitierte er Römer und Griechen. Hatte sich selbst in der Schriftstellerei versucht, es dann aber aufgegeben – Pflichten! Geld besaß er reichlich, konnte also, ohne auf den Pfennig sehen zu müssen, Freunde und Bekannte bewirten. Zwei Dinge schätze er, sagte er mir einmal, seine Arbeit und die Familie. Über den Kognak schwieg er. Er verfettete, das Herz begann zu flattern, und eines schönen Tages, es wurde gerade wieder einmal die geglückte Verteidigung einer Dissertation begossen, blieb die Lebensuhr stehen. Alle bedauerten Vaivadas’ Hinscheiden, weinten und schluchzten. Niemandem hatte er etwas Böses getan. Hatte auch nie darum gebeten, dass man ihm Kognak brachte. Und sich nie überheblich gezeigt gegenüber den ehemaligen Kollegen. Die Reden an seinem Grab waren aufrichtig und geradezu erhaben.
    Chicago , ein selten begabter Grafiker, hatte am Ufer der Vilnelė ein Schläfchen gehalten, blinzelte in die Sonne, gähnte, bog dann mit weit ausholenden Schritten in die Straße in Richtung Paplaujai, der Vorstadt. Und im nächsten Augenblick geriet er unter die Räder eines mächtigen Kippers. Wie kräftig Chicago auch war, der Kipper überwand ihn ohne Mühe. Chicago hatte Grafik studiert, aber im Herzen war er Bildhauer. Träumte davon, zwei Denkmäler zu entwerfen: eins für die Aufständischen, ein anderes für die Flieger aller Zeiten. Die litauischen, versteht sich. Aber er kam nie dazu, weil die Zeit fehlte, trank immer. Ich weiß nicht mal, wie er zu seinem Spitznamen kam: Chicago . Wo er doch offenbar einer vom Dorf war, aus Salakas oder Antazavė, und unbehauen wie eine Granitplatte.
    Als ich mich einmal im Säufergefängnis erholen durfte und mich alles grenzenlos anödete, begab ich mich ins Musikantenzimmer, fand dort Henrikas V. und bat ihn, sein Saxophon aus dem Futteral zu ziehen. Dann bettelte ich weiter, er möge für mich allein spielen, und zwar meine Lieblingsmelodie, den Criminal Tango . Zu der Einrichtung, in der wir uns befanden, passte der besonders. Und er, wenn auch nicht immer willig, häufig erst nach dem Versprechen, ihm Čeifyras zu kochen, einen narkotisierenden Teesud, griff zu seinem Instrument und legte los. Manchmal klang es ziemlich trist. Ein andermal wieder geriet er dermaßen in Fahrt, dass die Praporščiks und selbst die Wachhabenden herbeieilten, um ihn zu besänftigen. Kennt ihr diese Melodie? Sentimental, aber mit einer Beimischung von Blut. Als sie Henrikas entlassen hatten, erinnerte er sich daran, dass er professioneller Musiker war und begann umgehend sich nach Arbeit umzusehen. Nur wollte ihn niemand nehmen. Ach, so hieß es, du kommst von dort, keine angenehme Sache. Wirst wieder anfangen zu saufen. Nein, danke, nimm es nicht übel. Danach hing Henrikas am Flaschenhals wie ein Kalb an den Zitzen einer Kuh. Seine Frau musste sogar in der Nacht für Nachschub sorgen, sie verstand, dass es ihm nicht gut ging. Aber auch sie, die an einem Büfett arbeitete, geriet in irgendeine Sache hinein und wurde für kurze Zeit von der Gesellschaft isoliert. Henrikas blieb allein mit seiner Stieftochter und hing noch heftiger an der Flasche. Eines Nachts begann er so fürchterlich zu röcheln, dass die im Nebenzimmer schlafende Stieftochter erschrocken hochfuhr und schon einen Krankenwagen rufen wollte. Aber das Bedürfnis nach Schlaf war stärker, und sie dachte, dass es ja nicht das erste Mal sei. Der röchelt, dann schläft er ein, und morgen wird er wieder um Bier betteln. Henrikas schlief wirklich ein, nur diesmal für alle Ewigkeit. Und man hätte doch nur hingehen müssen, ihm das Kopfkissen ausschütteln, Wasser bringen, ein wenig Baldrian, vielleicht sogar zum Getränkepunkt laufen. Sicher hätte er sich erholt. Gegen Morgen frühstückte die Stieftochter, dann schlich sie sich aus dem Haus, um nach Klaipė da zu fahren. Bis man die Büfettbesitzerin entließ, vergingen drei weitere lange Tage. So lag Henrikas, mutterseelenallein. Kein Criminal Tango . Das eine Auge war geschlossen, das andere, von einem Bluterguss getrübt, blickte aufmerksam, neugierig und war groß wie ein Astloch.
    Nein, vielleicht schlafe ich endlich ein. Ich erwähne nur einige von denen, die das Gedächtnis aus der Tiefe geholt und an die Oberfläche befördert hat. Eine Menge solcher ließen sich noch ausmachen in diesem meinem Vierteljahrhundert. Na und, würde
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher