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Mobile Röntgenstationen - Roman

Mobile Röntgenstationen - Roman

Titel: Mobile Röntgenstationen - Roman
Autoren: ATHENA-Verlag e. K.
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Vielleicht. Vielleicht auch nicht.
    Šarlis Tamulis, Student der Philologie und Kellner, erhängte sich in der Neubauwohnung seiner Schwiegermutter, in der Toilette, mit einem Soldatengürtel. Er hasste den Sozialismus, aber nicht deswegen hat er sich erhängt. Ihn quälten Komplexe , außerdem war er nicht sehr glücklich verheiratet. Zog ein bei seinen Schwiegereltern, und sofort war er dort unglücklich. Wahnsinnig sensibel, poetisch, misstrauisch und unglücklich, eine Art Heliotrop in unserem widrigen Klima. Doch wie viele davon gibt es, die leben, und nichts passiert. Alles tat er ohne Grund, ohne Grund heiratete er, studierte er, kellnerte er. Hätte ein guter Waldarbeiter werden können oder vielleicht sogar Musikant, der bei Hochzeiten aufspielt. Doch nein! Es gab damals so eine dumme Mode, in Ämtern und staatlichen Einrichtungen den Tag der Sowjetarmee und der Rotbannerflotte zu feiern. Alberne Ansprachen, Zoten, Besäufnisse. Šarlis kannte ich: Wir beide beendeten zusammen die Schule und waren beinahe Freunde. Eine seltsame Verbitterung ging von ihm aus, selbst dann, wenn er sich amüsierte. Aber wer achtet in der Jugend auf solche Lappalien! Nachdem besagter Tag in seinem Restaurant gefeiert worden war, wankte Šarlis nach Hause und suchte dort vergebens seine bleichgesichtige Ehehälfte. Er zog sich aus, setzte sich aufs Bett, rauchte eine nach der anderen. Šarlis’ Frau, eine Russin, wurde in einem Erdbunker geboren, er selbst jedoch in einem normalen Kreißsaal. Und dennoch war er allzu empfindlich, nahm sich alles zu Herzen. Als seine Varja sich schließlich einfand, fragte Šarlis: Na, Varja? Wo bist du gewesen? Das geht dich einen feuchten Kehricht an, murmelte Varija. Lass mich jetzt schlafen. Dann geh ich jetzt und häng mich auf, erklärte mein Freund Šarlis Tamulis, basta! Das möge er ruhig tun, murmelte Varja und war schon eingeschlummert. Und Šarlis ging und erhängte sich. Offenbar war er ein Mensch mit Prinzipien, so erzogen. Ein gegebenes Wort musste man halten! Am anderen Morgen begab sich Varja zur Toilette und stieß dort auf Šarlis’ Beine. Die schob sie auseinander, legte sie sich auf die Schultern und hockte sich auf die Kloschüssel, so eine widerlich braunrote von eisenhaltigem Wasser. Während ihr Šarlis gleichsam im Genick saß. So schien es jedenfalls. Nur, dass sie nichts merkte. Als die arme Varja plötzlich zu sich kam und begriffen hatte, was hier passiert war, weckte sie mit ihrem Schrei das ganze Haus. Als sie Šarlis Tamulis beerdigten, platzten die vom Frost befallenen Zäune. Nur die Friedhofsmauer hielt stand, sie war erst unlängst fertig gestellt worden. Während der Sarg mit Erde bedeckt wurde, deklamierte ich ein selbst gefertigtes Gedicht. Aus meinem Mund dampfte die Kälte, ich lebte noch. Wollte überhaupt nicht mehr sterben und irgendwohin geraten. Schnee um mich herum, tief, trocken, vom Wind getrieben. Die Totengräber nehmen jetzt dreißig Rubel für eine Grube, erzählte mir einer. Damals war das verdammt viel Geld. Später wurde ein Stein, auf dem Šarlis beim Angeln gern gesessen hatte, auf sein Grab gerollt. Wir holten ihn direkt aus dem Fluss und schleppten ihn dorthin. Immer noch taucht Šarlis plötzlich auf, noch heute streite ich mich mit ihm. Nur dass er beinahe nie widerspricht und schweigt, allenfalls nachsichtig lächelt.
    Bibas, der eigentlich Juozas hieß, lag am Ufer des Nemunas im Gras und spannte seine Bauchmuskeln an, so lange, bis dort richtige Beulen hervorsprangen, dann lud er uns ein, auf seiner Bauchdecke herumzuspringen. Kräftig war er, untersetzt, mit pockennarbigem Gesicht und Igelschnitt. Als er herangewachsen war, spielte er hinter der Stadt Fußball, denn er rannte auch wie ein Windhund. Aber dann warfen sie Bibas aus der Mannschaft. Alkohol, Schlägereien, was sonst! Auch seine Arbeitsstelle verlor er, wo er sich, um die Wahrheit zu sagen, gar nicht hatte blicken lassen und nur sein Gehalt als Fußballer entgegennahm. Die Folge war, dass er noch wütender trank. Er war stark, er konnte das tun. Noch Jahre hätte er es ausgehalten. Meistens trank er im Wald, nahe einem kleinen See, offenbar, weil ein Getränkeladen ganz in der Nähe war. Irgendjemand kaufte dort für ihn ein, und er lag unter einem Haselnussstrauch und ließ sich voll laufen. War er müde geworden, drehte er sich zur Seite und schlief. Einmal nickte Bibas ein, während er auf dem Rücken lag, und zumindest diesmal sprang niemand auf seinem Bauch herum.
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