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Mobile Röntgenstationen - Roman

Mobile Röntgenstationen - Roman

Titel: Mobile Röntgenstationen - Roman
Autoren: ATHENA-Verlag e. K.
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waren an diesen Schachtarbeiten beteiligt, und jetzt sind wir gezwungen, wieder von vorne anzufangen, beim Nullzyklus . Wir, Osteuropas Waisenkinder, bedroht vom Osten, beschämt und mitleidig belehrt vom Westen, zuweilen ein gönnerhaftes Schulterklopfen von den Nachbarn, ermahnt von Tierschutzvereinen und Menschenrechtsorganisationen. Wäre so etwas um 1968 möglich gewesen? Nie und nimmer! Die Todesstrafe wurde ohne großes Federlesen vollstreckt, Andersdenkende stritten sich kaum untereinander, und die Heizperiode in den Irrenhäusern begann stets rechtzeitig … Nostalgie der verlorenen Zeit, wie sie dem Homo sapiens eigen ist? Immer diese Schlaflosigkeit! Selbst den Dienern religiöser Kulte kam zugute, dass dem lieben Gott öffentlich der Daumen gezeigt wurde oder den Philosophiedozenten … Aber jetzt reicht’s, vielleicht schlaf ich doch noch ein. Alle wird man nicht erwähnen können, schade. Für mich ist dieses Vierteljahrhundert der Ausgangspunkt, um Bilanz zu ziehen, ich könnte nicht mal überzeugend erklären, warum. Sicher misst jeder sein Viertel auf seine Art : wie eine Mütze, wie ein paar Sandalen oder wie einen Sarg. Nur: Die Toten, die zu meinem Personal gehören, dachten überhaupt nicht an irgendwelche Viertel- oder Halbjahrhunderte. Sie rannten herum wie irre, trieben Sport, nicht des Geldes, sondern der Gesundheit wegen, kämpften mit den Tücken des Alltags, klapperten mit den Wimpern, lächelten ironisch über die von den Fesseln des Imperialismus befreite Welt, liebten und stritten, verfassten ausgefeilte Beschwerdebriefe, verbreiteten gegnerische Propaganda und vieles mehr. Ohne jede Absicht, sich davonzumachen aus dieser unbelehrbaren Welt, sponnen sie Pläne, schwärmten davon, Paris zu besuchen, um dann, meist gegen ihren Willen und auf verschiedenste Weise, den Geist aufzugeben. Auf verschiedenste Weise? Mag sein. Wie man’s nimmt. In der Tat, zieht man die klinischen Parameter und klassischen Todesursachen in Betracht, dann starb selten einer eines natürlichen Todes. Aber in den heutigen Nullzyklus passen sie dennoch irgendwie, meine lieben Hinterbliebenen. Ohnehin werde ich diese Nacht nicht mehr zum Schlafen kommen. Auch Totensonntag ist nicht mehr weit. Immer diese Gräber und Gräber. Erde, schwarz und weich, beinahe wie Samt. Weich wie ein Katzenschwanz und blutleer. Wie hat er sich ausgedrückt, dieser schnurrbärtige Schizophrene Salvadore? Ja – Blut ist süßer als Honig . Auf den Friedhöfen findet sich kein Blut. Nur eine Menge pflichteifriger Besucher am Abend vor Allerheiligen. Demonstrierter Schmerz, obwohl vielleicht … Der Nullzyklus trotzt seit jeher allen Prachtbauten. Und eben deshalb ist er notwendig.
    Der kleine Povilas war mein Freund in der Grundschule und die erste Leiche, die ich zu sehen bekam. Ich war nur neugierig. Als sie ihn aus dem Nemunas zogen und aufbahrten, wurde an seinem Haus in der Vilniusser Straße eine blassrote Fahne mit weißem Kreuz gehisst. Sie beerdigten ihn mit einem Priester, obwohl beide Eltern Lehrer waren und manch einer davon abriet, diese Fahne aufzuziehen. Ohne Erfolg. Wir wurden damals noch kahl geschoren, und Povilas Kopf war übersät mit weißen Striemen, dort, wo er, herumtollend und sich prügelnd, angeeckt war. Dennoch flüsterte mir damals ein erwachsener Mann zu: Unser Povilas ist schon im Himmel! Kinder gelangen viel leichter dorthin. Wie gern wäre ich auf der Stelle gestorben! Die blassrote Fahne, der Teppich im Lastwagen, der nach Harz duftende Sarg und ganz nah das Himmelreich! Povilas war ein guter Schüler gewesen, Erstgeborener von Dorflehrern. Der Vater untersetzt, dunkelhaarig, die Haut runzelig, verbraucht irgendwie. Die Mama hingegen schlank und hochgewachsen, mit langem, dünnem Hals. Povilas ertrank im Nemunas, er lief einem Fußball nach und sackte ein. Ein Jahr später verunglückte sein kleiner Bruder in der Dorfschule, an seinen Namen erinnere ich mich nicht mehr. Er war als Hase verkleidet gewesen. Offenbar war dort eine Petroleumlampe umgekippt, andere sagen, ein kleines Fass sei in Flammen aufgegangen, entzündet von einem bengalischen Feuer. Das Häschen wälzte sich noch einige Tage vor Schmerz in einem Krankenhaus, dann erstarrten die Lippen, auch dieses Kind starb. Vilkus war der Nachname des Lehrers, Vilkuvienė der seiner Frau. Es gab noch einen dritten Sohn, über den ich nichts weiß. Vielleicht ist er in der Armee ums Leben gekommen oder im Suff mit seinem Traktor umgekippt.
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