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Mobile Röntgenstationen - Roman

Mobile Röntgenstationen - Roman

Titel: Mobile Röntgenstationen - Roman
Autoren: ATHENA-Verlag e. K.
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und teurer.
    Die Gerechten dieser Erde sind stets allzu fordernd und ungerecht den Schwachen gegenüber. Und sind doch selbst keine Heiligen. Sie besiegen uns wieder und wieder, hastend, böse, sich aufplusternd, immer das suchend, was sie die Wahrheit nennen. Doch das, was man bereits besiegt glaubt, feiert immer wieder seine Auferstehung von den Toten, ob uns das passt oder nicht. Nachdem wir die beinahe noch greifbare, so gar nicht ferne Vergangenheit beerdigt haben, zieht es uns immer mehr dorthin, wo wir noch nicht waren. Immer überzeugender erklären wir uns selbst, warum nach der Schlacht von Tannenberg nicht das Territorium des Ordens besetzt wurde. Oder, um ein anderes Beispiel zu nennen, warum nicht nur Prinz Kazimir der Tuberkulose zum Opfer fiel, sondern auch unsere Bildungselite: Poeten, Musiker, Gymnasiasten, selbst Ärzte. Der Nutzen all dieser Überlegungen ist übrigens gleich null. Selbst in der Zukunft wird all das kaum von Belang sein. Doch so sind die Litauer beschaffen. Sie sind dazu da, dort Nutzen zu suchen, wo keiner ist, aus der Vergangenheit Missmut und Revanchegelüste zu schöpfen, andere anzuschwärzen und heutzutage auch sich selbst.
    Trost gibt es immerhin, wenn auch geringen. Verstärkt sich mit den Jahren die Zeit-Schicht, dann ergeht es dem Menschen wie dem Brunnenwasser im Herbst. Das Trübe, Sumpfige reinigt sich von selbst, wird durchsichtig wie das Sieb der Žeimena. Alles regelt dann eine rasselnde Uhr, die wieder zu laufen beginnt. Tick tack, tack tick. Alle Irrtümer, Irrungen und Wirrungen verlieren ihren Schrecken, die erfahrenen Erniedrigungen, selbst Momente, in denen man dem Tod ins schielende Auge blickte, rufen allenfalls ein Achselzucken hervor. Ja, und? Na, mich hätten sie damals glatt durchbohrt. Vom Dach gestoßen, unter die Räder gebracht. Eingemauert in einen Betonpfeiler. Ist das heute noch wichtig? Kein bisschen. Es darf mitleidig gelächelt werden. Doch auch die, die Abstand gewonnen haben und beinahe versöhnt zu sein scheinen, wagen selten, jene erst unlängst beendete Vergangenheit offen anzusprechen, deren Monotonie und Langeweile, die seltenen Lichtblicke. Sie war auch bitter und düster und blutig, diese Vergangenheit. Doch all das, scheint es, ist gar nicht uns widerfahren, sondern irgendwelchen Bekannten, vielleicht sogar Verwandten. Aus der Mehrzahl unserer Mitmenschen bekommen wir nicht viel heraus, umso mehr, als alles Frühere verdrängt wird von neuen, wenn auch fern von uns sich vollziehenden Ereignissen: Der Krieg in Afghanistan wird abgelöst von dem am Persischen Golf, bald darauf wird Tschetschenien in Grund und Boden gebombt, jeden Tag explodieren Flugzeuge, fliegen Gebäude in die Luft, werden Geiseln genommen. Niemand schert sich noch um einen Menschen, der eines natürlichen Todes stirbt. Gewöhnliche Krankheiten, Seelennöte – uninteressant! Langweilig selbst, wenn auf der Welt mal kein Krieg geführt wird, obwohl das noch nie vorgekommen ist. So, wie die Jahre sich übereinander schichten, liegen sie nun, die so genannten Ereignisse, aufgestapelt wie ein paar Festmeter Holz, irgendwo auf einem sonnigen Platz im Wald, und die alten Begebenheiten, selbst die unangenehmen und schrecklichen, bedeckt jene weiche, pelzige, grüngraue Schimmelschicht des Vergessens, aus der man Penizillin gewinnt. Dort findet es sich am häufigsten, es ist dort billig und jedermann zugänglich. Man sollte sich diese noch nicht abtransportierten Festmeter ansehen, besonders wenn es Erlenholz ist. Ein wenig von der untergehenden Sonne beschienen, rötliches Harz ausschwitzend wie einen Blutstrom, seltsam ordentlich die Stämme und ein wenig traurig. Zuflucht für den, der sich im Wald verirrt hat, und ein, wenn auch trügerisches, Sicherheitsgefühl vermittelnd.
    Dennoch hat sich die Welt erstaunlich gewandelt, selbst während unseres kurzen Lebens. Geht man schon auf die fünfzig zu, dann darf man staunend vermelden: Weiß Gott, vor einem Vierteljahrhundert hätte ich mir nicht ausmalen können, dass heute jeder Rotzlöffel Auto fährt und aus der Disko mit einem Mobiltelefon seine Perle anruft, während die Märtyrer der Wissenschaft von irgendeinem Internet phantasieren. Dass der Russe einmal wie ein Golem auf die Knie fallen wird. Dass sich Politruks in Politiker verwandeln und KGB-Chefs in die Bosse von Nachrichtenagenturen. Oh ja, vor einem Vierteljahrhundert, so sag ich mir selbst: Auch ich war empfindsam damals, aufnahmefähig, voller seltsamer
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