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Mitternachtsstimmen

Mitternachtsstimmen

Titel: Mitternachtsstimmen
Autoren: John Saul
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immer ein Holzscheit gebrannt hatte,
ganz gleich wie warm der Tag oder die Nacht waren – war
erloschen, und obwohl Caroline bestimmt zehn Meter davon
entfernt stand, spürte sie einen kalten Luftzug.
Ein Luftzug, der sich so kalt wie der Tod selbst anfühlte.
Erschaudernd wandte sie sich vom Kamin ab und schaute
dabei direkt in die Portierloge.
Wo Rodneys Leiche lag.
Daher kam natürlich auch dieser Gestank. Aber warum
hatten sie ihn nicht gefunden? Während ihr die Frage durch den
Kopf ging, nahm gleichzeitig die Antwort in ihrem
Bewusstsein Form an, und beinahe gegen ihren Willen ging sie
auf die Loge zu.
Ihre Schritte auf dem kalten Marmorboden hallten im
Düsteren wider, denn die Wandleuchten waren nicht in der
Lage, gegen die Dunkelheit anzukämpfen, die sich über das
Foyer gelegt hatte. Das Klopfen ihres Herzens fiel in den
Rhythmus ihrer Schritte ein und wurde mit jedem lauter. Sie
gelangte bis zur Loge, wappnete sich gegen den widerlichen
Leichengeruch, der jede ihrer Poren zu durchdringen schien,
und spähte über den Schreibtisch hinweg auf den Boden.
Alles, was sie sah, war schwarzer und weißer Marmor,
schachbrettartig verlegte Fliesen, wie auch im übrigen Foyer.
Keine Spur von Rodneys Leiche, kein einziger Blutspritzer.
Nur dieser Geruch – dieser ekelhafte Gestank, der aus seiner
Wunde gedrungen war.
Irritiert drehte sie sich zu der Beamtin in Marineblau um.
»Wo ist er?« Ihre Stimme hallte in der Leere, genau wie ihre
Schritte und das Klopfen ihres Herzens.
»Wer?«
»Der Portier«, erwiderte Caroline leicht verzweifelt. »Sein
Name war Rodney.« Verunsichert, so als wüsste sie nicht ganz
genau, wo sie sich befand, drehte sie sich noch einmal zu der
Stelle um, wo sie ihn zuletzt gesehen hatte, die Kehle
aufgeschlitzt, Blut spuckend und mit klauenartigen Fingern
nach ihr greifend. »Er war hier.« Sie zögerte. »Er war tot. «
Hernandez schüttelte den Kopf. »Nicht hier«, erwiderte sie.
»Wir haben weder den Portier noch irgendjemand anderen
gefunden.«
Dann war Oberholzer neben ihr. »Möchten Sie mir zeigen,
wo Sie Laurie gefunden haben?«
Mit einem stummen Nicken führte Caroline ihn zur Kellertür
und über die Stufen hinab. Jemand hatte den Gang provisorisch
beleuchtet, und der grelle Schein der nackten Glühbirnen
vertrieb die Düsterheit der vergangenen Nacht. Als sie an die
Tür kamen, die sie – mit Tonys Fingern dazwischen –
zugeworfen hatte, ehe sie mit Ryan die Treppe hinaufgestürmt
war, fanden sie diese jetzt weit offen.
Aber keine Spur von Tonys Fingern, kein Bluttropfen auf
dem Zementfußboden, wo sie die Finger hatte liegen sehen.
Sie gingen weiter, den schmalen Flur entlang bis zu der Tür,
hinter der der Raum lag, in dem Ryan Laurie entdeckt hatte.
Der uniformierte Beamte vor der Tür hob seine Hand zu einem
schlampigen Salut.
»Die Jungs vom Labor sind noch nicht da.«
»Wir fassen nichts an«, gab Oberholzer zurück. »Wir
schauen uns nur um.«
Auch dieser Raum war von Glühbirnen, die von der
niedrigen Decke baumelten, hell erleuchtet. An der
gegenüberliegenden Wand standen sechs Bahren; vier waren
leer, zwei nicht.
Auf der einen lag, was von Rebecca Mayhew noch übrig
war. Ihr Unterleib klaffte weit auf; die Bauchhöhle war leer,
bar aller Organe. Man hatte ihr die Haut abgezogen, so dass ihr
verwesendes Fleisch offen lag, und ihre leeren Augenhöhlen
starrten blicklos zur Decke. Maden labten sich noch an dem
verwesenden Fleisch, und als Caroline und Oberholzer sich
dem Leichnam näherten, flüchtete sich eine Kakerlake in
Rebeccas Nasenloch.
Auf der anderen Trage lag ein Junge, den sie noch nicht
ausgeweidet hatten. Er mochte ein oder zwei Jahre älter sein
als Ryan, und überall an seinem Körper sah man die Einstiche
der Nadeln, durch die man ihm jede Art von Körpersaft
abgezapft hatte.
Carolines Augen schwammen in Tränen, als sie sich
abwandte und von Oberholzer wieder nach oben in die Halle
und in den Aufzug geleitet wurde. »Ich denke, wir sollten einen
Blick in Ihre Wohnung werfen«, schlug er vor, seine Stimme
so behutsam wie seine Berührung. »Was immer wir dort
finden, könnte nicht schrecklicher sein als das, was wir soeben
gesehen haben.«
Mit dem Blick eines verängstigten Kaninchens drehte sie
sich noch einmal nach der Portierloge um. Wenn die Leichen
der Kinder noch da waren, was war dann mit Rodneys Leiche
passiert? Sie hatte ihn getötet – das wusste sie genau! Getötet
und hier in seinem
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