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Mitternachtsstimmen

Mitternachtsstimmen

Titel: Mitternachtsstimmen
Autoren: John Saul
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Eichenstuhls geschnitzt, der jetzt in Birtin in einem
Museum stand.
Allmählich verblasste das Sonnenlicht, und auf einmal wehte
Caroline ein schwacher Geruch um die Nase, den sie sofort als
jenen Leichengeruch erkannte, der zuletzt das gesamte
Rockwell erfüllt hatte. Der Geruch schien sie anzulocken, sie
immer näher an den Waldrand zu führen.
Und als dieser Geruch schier überwältigend wurde, kniete
sie sich hin und tastete unwillkürlich den Waldboden ab.
Als sie unter der weichen Humus- und Laubschicht auf
etwas Hartes, Kaltes stieß, fegte sie die vertrockneten Blätter
beiseite. Was darunter zum Vorschein kam, war eine
Steinplatte. Obgleich schmutzig und im Laufe der Jahre
verwittert, konnte man die eingravierten Buchstaben noch
deutlich erkennen:
Lavinia Dolameci
1832-1869
    Während ihr Herz ein paar Takte schneller schlug, fegte sie
mehr Laub beiseite und fand noch weitere Grabsteine, alle
flach auf der Erde liegend, alle mit einer Schicht vermoderter
Blätter bedeckt. Und alle trugen sie Namen. Namen und
Jahreszahlen.
Elena Contesici
1821-1863
     
Gheorghe Birtin
1824-1864
     
Mathilde Parnova
1818-1864
    Parnova! Tildie Parnova? Plötzlich konnte sie eine Verbindung
herstellen:
Elena Conesici … Helena Kensington.
Gheorghe Birtin … George Burton.
Lavinia Dolameci … Lavinia Delamond.
Jetzt suchte sie noch besessener, grub die Finger tief in die
Erde und schaufelte sie auf der Suche nach weiteren alten
Grabsteinen beiseite.
Dieser Geruch schien nun förmlich aus der Erde zu quellen,
und je stärker er wurde, desto tiefer drang er in ihre Erinnerung
ein und riss die Kruste jeder einzelnen Wunde auf, die in den
letzten fünf Jahren zu verheilen begonnen hatten. Obgleich ihr
der Leichengestank schier den Magen umdrehte, grub sie wie
besessen weiter, bis ihre Finger bluteten, die Nägel abgerissen
waren und sie endlich den Grabstein gefunden hatte, von dem
sie wusste, dass er hier irgendwo liegen musste.
In diesen Grabstein waren nicht nur der Name und das
Sterbejahr eingraviert, sondern auch ein Porträt des
Verstorbenen, eine ebenso kunstvolle Arbeit wie die Engel auf
der Armlehne des Hochzeitsstuhls und die Dämonen, die stets
von demjenigen im Verborgenen gehalten wurden, der auf
diesem Stuhl saß.
Caroline erkannte die Person auf dem Porträt sofort, denn
ihre Augen wirkten in Stein gemeißelt genauso tot wie die des
vermeintlich lebendigen Mannes, den sie geheiratet hatte.
Anton Vlamescu.
Anthony Fleming.
Während die eisigen Finger des Todes nach jeder Zelle ihres
Körpers grapschten, richtete Caroline sich auf und wandte sich
von dem leeren Grab ihres Ehemannes ab. Doch als sie die
Lichtung verlassen wollte, spürte sie Augen im Rücken, die sie
noch immer beobachteten.
Die Augen der Dämonen oben in den Bäumen.
Und die Augen der Toten, die nicht länger in den Gräbern
dort unten weilten.
»Nein«, wisperte sie. »Das wird nicht geschehen. Das werde
ich nicht zulassen!« Von einer Sekunde zur nächsten
verwandelte sich der kalte Hauch des Todes in glühende Wut,
die Caroline die Kraft verlieh, den Grabstein zu packen, der
einst über Anthony Flemings Grab gestanden hatte, und ihn
hoch über ihren Kopf zu heben. »NEIIIN«, schrie sie, und
diesmal brach dieses Wort aus ihrer Kehle hervor und schallte
durch den Wald, als sie den Grabstein gegen einen Granitfelsen
schleuderte. Und während der Schrei, der all ihre Wut
beinhaltete, zwischen den Bäumen verhallte, zerschellte der
Grabstein in tausend Stücke.
Im Wald kehrte wieder Stille ein, und als Caroline noch
einmal hinauf zu den Bäumen blickte, waren sie leer.
Die Dämonen und alles, was sie verkörperten, waren endlich
verschwunden.
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