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Mitternachtsstimmen

Mitternachtsstimmen

Titel: Mitternachtsstimmen
Autoren: John Saul
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Blut liegen lassen! Aber jetzt – »Das kann
nicht sein«, sagte sie, ihre Stimme kaum mehr als ein Hauch.
»Ich weiß, was passiert ist … weiß, was ich getan habe …«
»Kommen Sie, wir gehen jetzt erst einmal hinauf und sehen
uns oben um.« Oberholzer zog die Fahrstuhltür auf, und
Caroline ließ sich von ihm in die Kabine bugsieren. Als der
Fahrstuhl ruckend anfuhr und die Portierloge ihrer Sicht
entglitt, hob Caroline den Blick und sah Oberholzer an. Auf
ihren aschgrauen Wangen schimmerten noch die Tränen, die
sie beim Anblick des leblosen Gesichts des Jungen vergossen
hatte. »Sie sind alle weg, nicht wahr?«, wisperte sie. »Nicht nur
Rodney. Alle.«
»Wir werden sie finden«, gab Oberholzer zurück, die
Stimme so hart wie sein Blick. »Wir lassen Leute, die so etwas
verbrochen haben, nicht ungeschoren davonkommen.«
Im fünften Stock blieb der Aufzug stehen, und als Caroline
einen Blick auf die Tür von Anthony Flemings Wohnung warf,
spürte sie, wie sich ein Gefühl der Abkapselung in ihr
ausbreitete. Das ist nicht unsere Wohnung, dachte sie. Sondern
die seine. Die Tür stand offen; in der Eingangshalle wartete ein
uniformierter Beamter. Und aus der Wohnung, in die sie nicht
nur sich selbst, sondern auch ihre Kinder einquartiert hatte,
schlug ihr jetzt der gleiche Leichengestank entgegen wie unten
im Foyer und im Keller.
»Haben Sie das so vorgefunden?«, erkundigte sich
Oberholzer und nickte mit dem Kinn Richtung Tür.
Der Beamte bejahte. »Nichts verschlossen – die Tür
sperrangelweit offen. Was ich gern wüsste, ist, wonach wir hier
eigentlich suchen. Sieht nicht so aus als hätte hier in den letzten
Jahren jemand gewohnt.«
Caroline Fleming und Frank Oberholzer wechselten einen
befremdeten Blick, aber keiner von ihnen sagte etwas. Dann
betraten sie die Wohnung, und im ersten Moment war Caroline
etwas verwirrt und glaubte, sie stünde in der falschen
Wohnung. Doch nach einem raschen Rundblick wusste sie,
dass es die richtige war. Alles stand genau dort, wo es vor zwei
Tagen gestanden hatte: Das Tischchen neben der Tür zu Tonys
Arbeitszimmer, die wuchtige Großvateruhr, der Schirmständer
neben der Eingangstür – alles wie gehabt.
Und dennoch schien all das in den zwei Tagen gealtert zu
sein.
Der Lack des Tischchens hatte Risse bekommen und begann
an einigen Stellen abzublättern.
Die Großvateruhr war stehen geblieben, obwohl die
Gewichte noch in der Mitte hingen.
Den bronzenen Schirmständer, in dem man sich vor zwei
Tagen noch hatte spiegeln können, überzog nun eine matte,
grüne Patina, als hätte ihn seit Jahrzehnten niemand mehr
geputzt.
Überall standen die Türen offen, und jedes Zimmer bot ein
ähnliches Bild – die Farbe blätterte ab, alles war matt, die
Polster zerschlissen und die Muster ausgeblichen.
Und über allem hing der Geruch des Todes.
Caroline, der schwindlig geworden war, trat einen Schritt
weiter in die Diele. »Ich – das verstehe ich nicht«, murmelte
sie, während sie langsam durch die Wohnung gingen.
Ungläubig schritt sie von einem verwahrlosten Zimmer zum
nächsten. »Das ist doch einfach unmöglich – was ist hier
passiert?«
»Ich weiß es nicht«, erwiderte Frank Oberholzer, während
sein geschulter Blick jedes Detail aufnahm. »Als ich gestern
hier war …« Seine Stimme brach ab. Ratlos schüttelte er den
Kopf. »Gehen wir hinauf.«
Die oberen Räume befanden sich im selben Zustand wie der
Rest der Wohnung. Alles war an seinem Platz, doch mit
Ausnahme der wenigen Dinge, die Caroline aus der alten
Wohnung mitgebracht oder neu gekauft hatte, schien alles über
Nacht bis zum Stadium der Hinfälligkeit gealtert zu sein.
In Ryans Zimmer interessierte Oberholzer besonders die
Decke des begehbaren Kleiderschranks, und als er wie zuvor
Ryan über die Regalbretter geklettert war, konnte er die
Klapptür aufheben, genau wie der Junge es beschrieben hatte.
Anschließend gingen sie wieder hinunter in die unteren
Räume, und am Fuße der Treppe sprach Oberholzer wieder.
»Zeigen Sie mir den Geheimgang im Arbeitszimmer Ihres
Mannes«, forderte er Caroline auf.
Sich innerlich wappnend, führte sie Oberholzer in Tonys
Arbeitszimmer. Die Tapete war so fleckig, als klebte sie schon
hundert Jahre an der Wand, und das Hartholzparkett hatte
seinen Glanz völlig verloren. Die Lederbezüge der Sessel
waren gebrochen und farblos geworden, die Furnierung des
Schreibtischs war stellenweise geplatzt und begann
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