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Mitternachtsstimmen

Mitternachtsstimmen

Titel: Mitternachtsstimmen
Autoren: John Saul
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abzublättern.
Der Schreibtisch! Caroline rannte darauf zu und riss
nacheinander die Schubladen auf. Und da lag es – das Album!
Sie zog es heraus und klappte es auf.
Leer – alle Fotos waren herausgerissen, das schwarze Papier
zerbröckelte unter ihren Fingern.
Das Scheckbuch und die Packen von Fotos waren ebenfalls
verschwunden.
Aber der Schrank stand noch dort, und als sie die Türen
öffnete, erkannte sie sofort das Paneel an der Rückwand
wieder. Das Paneel, das sich verschieben ließ, und hinter dem
der Raum lag, in dem sie Laurie auf der Bahre hatte liegen
sehen, umgeben von den plaudernden Blutsaugern, die ihre
Nachbarn gewesen waren und Laurie jetzt belauerten, als
wollten sie sie verschlingen. »Dort«, sagte sie und deutete auf
die Rückwand des Schranks. »Dieses Paneel lässt sich nach
links bewegen.« Oberholzer schob sich an ihr vorbei in den
begehbaren Schrank und begann das Paneel zu untersuchen.
»Rechts gibt es eine Stelle, wo Sie es anfassen können«,
erklärte sie ihm. »Dann drücken Sie links und ziehen.«
Oberholzer probierte eine Weile herum, dann drängte sich
Caroline an ihm vorbei. »Warten Sie, ich zeig’s Ihnen.«
Kurz darauf fanden ihre Finger die Vertiefung. Sie drückte
mit der flachen Hand auf die andere Seite der Holztäfelung,
und sie glitt zur Seite.
In ihrem Kopf drehte sich alles, als sie in den Raum blickte,
wo sie Laurie, umringt von beinahe allen Bewohnern des
Rockwell, gefunden hatte. Plötzlich waren sie alle wieder da
und starrten sie an. Auch Tony, der langsam auf sie zu kam
und–
»Ganz ruhig«, sagte Oberholzer. Seine Hand stützte ihren
Ellbogen, und die Vision verschwand so schnell wie sie aus
ihrer Erinnerung auferstanden war. Doch obwohl all diese
Menschen verschwunden waren und der Raum hinter Anthony
Flemings Arbeitszimmer leer stand, blieb Caroline reglos
stehen und schüttelte den Kopf.
»Ich kann da nicht hineingehen«, sagte sie heiser. »Bitte,
zwingen Sie mich nicht dazu.«
Oberholzer überlegte kurz. »Es wird alles gut werden«, sagte
er. »Wir werden sie finden. Glauben Sie mir, Mrs. Fleming,
wir werden sie alle finden.«
Aber noch während er die Worte aussprach, wurde Caroline
bewusst, dass Oberholzer seine Beteuerungen genauso wenig
glaubte wie sie selbst. Wer immer Anthony Fleming gewesen
sein mochte – und all diese anderen Leute –, sie wusste, dass
Frank Oberholzer sie niemals finden würde. Und sie wusste
auch, dass sie zwar im Moment verschwunden, aber
keineswegs tot waren.
Irgendwo, irgendwann würden sie wieder auftauchen.
Und um Mitternacht würde ein Kind wieder ihre flüsternden
Stimmen hören.
Sie würden wieder miteinander tuscheln und sich wieder an
den Kindern laben.

Epilog
    »Das ist doch verrückt, Mutter«, hörte Caroline ihre Tochter
sagen, die Stimme so klar, als säße Laurie direkt neben ihr.
Dabei war sie zu Hause in New York. »Warum tust du dir das
an? Du wirst nichts finden.«
    Caroline betrachtete die Szenerie, die draußen vor dem
Zugfenster vorbeizog, und fragte sich, ob es überhaupt eine
Antwort gäbe, die Laurie befriedigen würde. Wahrscheinlich
nicht – sie konnte sich noch ganz genau an die Gesichter ihrer
Kinder erinnern, als sie ihnen eröffnete, was sie vorhatte. Es
war dieser Jetzt-spinnt-sie-wirklich-Ausdruck, den sie in den
letzten Monaten immer häufiger bei ihnen gesehen hatte, und
an jedem einzelnen Tag der letzten zwei Wochen, seit sie
verkündet hatte, dass sie nach Rumänien reisen werde. »Du
meine Güte, Mom«, hatte Ryan gestöhnt, nachdem er mit
Laurie besagten Blick getauscht hatte, der Kinder verbindet,
die glauben, so viel mehr zu wissen als ihre Eltern je wissen
würden. »Rumänien? Das klingt nach einem drittklassigen
Dracula-Film. Warum kannst du das nicht einfach auf sich
beruhen lassen? Wenn wir darüber hinweg kommen, warum
gelingt es dir dann nicht?«
    Weil ich eure Mutter bin, hatte sie erwidern wollen. Ich
werde das nie vergessen und so lange suchen, bis ich Anthony
Fleming finde und genau weiß, was damals passiert ist! Doch
als sie ihm antwortete, sah sie zu, dass sie ihre Worte zügelte.
»Wenn das nichts bringt, gebe ich auf«, hatte sie versprochen.
Und vielleicht sollte sie das auch wirklich tun. Laurie würde
nächsten Herbst mit dem College beginnen, und Ryan sein
letztes Highschool-Jahr. Für die beiden schien das, was vor
fünf Jahren passiert war, bereits Geschichte zu sein. Doch für
Caroline war in den
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