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Mitternachtsstimmen

Mitternachtsstimmen

Titel: Mitternachtsstimmen
Autoren: John Saul
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Oberholzer kennt dich wenigstens, war schon in diesem
Gebäude und hat schon mit einigen der Bewohner gesprochen.
Also, entscheide dich: Entweder rufe ich jetzt Oberholzer an
und bitte ihn hierher, oder ich rufe –« Er machte eine kleine
Pause. »Jemand anderen an.«
Das kurze Zögern reichte aus, um Caroline klar zu machen,
dass »jemand anderer« wahrscheinlich ein Krankenwagen sein
würde, der sie ins Bellevue brachte. »Also schön«, seufzte sie.
»Meinetwegen. Dann ruf ihn an. Aber bitte sag ihm, dass er
sonst niemanden verständigen soll. Niemanden!«
Frank Oberholzer hörte sich schweigend die ganze Geschichte
an, wie Kevin und Mark das in der Nacht getan hatten.
    Er registrierte auch aufmerksam, was Ryan zu erzählen hatte,
und sah sich die Einstiche an Lauries Armen und Beinen an.
Laurie war jetzt ganz wach, und als er sie fragte, ob sie nicht
zum Doktor gehen wolle, schüttelte sie den Kopf. »Ich habe
nur einen Riesenhunger«, erklärte sie. »Ich bin nicht krank –
nur ein bisschen schwach. So wie Rebecca.«
    Oberholzer runzelte die Stirn. »Humphries sagte, sie sei
anämisch.«
»Pah, anämisch«, spöttelte Caroline. »Heutzutage ist doch
niemand mehr anämisch. Und wenn, hätte jeder normale Arzt
das Problem schon vor Monaten in den Griff bekommen! O
Gott, ich hätte auf Andrea hören sollen. Sie hat von Anfang an
behauptet, dass da was nicht stimmt. Aber ich habe ihr nicht
geglaubt. Ich wollte ihr nicht glauben!«
»Und jetzt geht Ihre Theorie dahin, dass die Bewohner des
Rockwell alle steinalt sind und ihre Körper am Leben erhalten,
indem sie Kindern Lebenssäfte absaugen?«, folgerte
Oberholzer mit unverhohlener Skepsis.
Caroline schüttelte den Kopf. »Ich glaube sogar, dass sie tot
sind. Als ich Tony mit den Fingernägeln das Gesicht
zerkratzte, löste sich die Haut wie eine Maske ab, und das
Fleisch darunter schien schon zu verwesen. Und als ich –« Sie
biss sich auf die Zunge, als ihr einfiel, was sie Rodney vor
wenigen Stunden angetan hatte, als sie ihm ohne nachzudenken
die Kehle aufgeschlitzt hatte. Jetzt, im Morgenlicht, kam ihr
erst so richtig zu Bewusstsein, was sie getan hatte.
Sie hatte ihn ermordet.
Ein anderes Wort gab es dafür nicht.
Außer man sieht davon ab, das man niemanden ermorden
kann, der schon tot ist.
»Der Portier war auch einer von ihnen«, fuhr sie schließlich
leise fort. »In dem Augenblick, als das Messer in ihn eindrang,
war es, als löste er sich auf – es begann schrecklich zu stinken,
seine Finger schwollen an, seine Nägel wurden schwarz und
fielen …« Ein Schauer durchrieselte sie, als ihre Stimme brach,
doch dann sammelte sie sich wieder und sah Oberholzer direkt
in die Augen. »Sie sind nicht alt, Sergeant«, erklärte sie ruhig
und besonnen. »Das sind lebende Leichen. Alle.«
Eine ganze Minute lang blieb Oberholzer stumm, dann holte
er sein Handy aus der Tasche und tippte eine Nummer ein.
»Sind gestern Abend oder heute früh irgendwelche
Vorkommnisse im Rockwell gemeldet worden?« Schweigen.
Dann: »Okay, schick jemanden rüber, der sich mal umschaut,
ob es in der Lobby irgendwelche Probleme gibt. Ich warte auf
den Rückruf.«
Oberholzer klappte das Telefon zu, dann folgte ein langes
Schweigen, das erst das Klingeln seines Handys brach. Er
klappte es auf, lauschte, brummte etwas und klappte es wieder
zu.
»Ich glaube, wir gehen mal rüber«, sagte er so unsicher wie
der Blick, der sich plötzlich in seine Augen geschlichen hatte.
»Sie haben ihn gefunden, nicht wahr?«, fragte Caroline.
Oberholzer schüttelte verneinend den Kopf. »Bis jetzt
nicht«, sagte er. »Und wie es aussieht, ist das Rockwell
menschenleer.«
»Ich weiß nicht, ob ich das kann«, wandte Caroline ein. Sie
stand mit Frank Oberholzer auf dem Gehsteig der Central Park
West. Der Morgen war frisch und sonnig; ein halbes Dutzend
Kindermädchen schoben ebenso viele Kinderwägen vorbei,
und die Jogger machten einen eleganten Bogen um sie, ohne
ihr Lauftempo zu ändern. Im Park, auf der anderen Seite der
Mauer, fütterten bereits ein paar ältere Frauen und Männer die
Eichhörnchen.
Vor ihnen erhob sich das Rockwell. Vor dem stahlblauen,
wolkenlosen Himmel, die Ostfassade vom Sonnenlicht
angestrahlt, hätte das Rockwell eigentlich freundlich aussehen
müssen.
Doch stattdessen strahlte es unheilvolle Vorahnung aus.
Die Jahrzehnte alte Schmutzschicht auf der Fassade erschien
ihr auf einmal noch schwärzer als sonst, und die
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