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Mittelreich

Mittelreich

Titel: Mittelreich
Autoren: Josef Bierbichler , MITTELREICH
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andern unhörbar, die von Gesang und Ruderplätschern, Sonnenuntergang und Kirchenglockenläuten bis ins Hirn hinein beseelt und taub für alles andre waren – ich schaue lieber gar nicht hin, auf den Klosterrieder Kirchturm, sonst greif ich nur danach, so nah wie der zum Greifen scheint, sagte der im zweiten Boot ganz vorne stehende Pfarrer in sein lautes Vorbeten hinein und schloss die Augen ... –, sagte also der Bürgermeister zum Dinewitzer: Mobilmachung is! Schon seit vierzehn Tagen. Du kennst dich rundherum gut aus. Kommst morgen in die Kanzlei und sagst mir alle Namen von die Jungen bis fünfundzwanzig, die du weißt. Gell!
    Schon recht, sagte der Dinewitzer mechanisch und ruderte weiter. Und allmählich ordneten sich ihm die Gedanken und schwellten sein Hirn. Sein Gesicht begann zu leuchten: Mobilmachung is! Endlich!
    Überall im Land schwollen die Köpfe zu ungesunder Grö ße, und es leuchteten die Gesichter in einem irrlichternden Wahn. Wie eine Befreiung kam es ihnen vor, eine Erleichterung: Es passiert endlich was!
     
    Knappe acht wog der jüngere Sohn des Seewirts an Jahren, als sein älterer Bruder von des Kaisers Befehl und unter dem Jubelgeschrei des Vaterlandes ins Feld eskortiert wurde. Noch stand das Grummet saftig auf den Wiesen, und der Schnitt würde frühestens in vier Wochen erfolgen. Auf den Hanglagen weideten jetzt tagsüber die Kühe, gehütet vom jüngeren Sohn, so dass die zwei Altknechte den Stall ganz gut allein versorgen konnten. Er fehlte noch nicht so richtig, der Bruder und Hoferbe, noch nicht, und auch die Einberufung des Jungknechts war gerade noch zu verkraften. Aber lange durfte es nicht dauern, das Zurechtstutzen des arroganten Franzosen, und die Zivilisierung des grobknochigen Russen, und die Bestrafung des hinterhältigen Serben, der den Kronprinzen auf dem Gewissen hatte. Lang nicht, nicht länger als die versprochenen sechs Wochen. Dann konnte man das alles gut verkraften. Die Schwestern hatten gerade Große Ferien vom Internat, und die dauerten genau sechs Wochen. Die konnten gut helfen, wenn Not am Mann war. So gesehen war das ganze Unternehmen Krieg doch klug berechnet von des Kaisers Generälen. So gesehen schon. Aber würde sich das Schicksal auch so fügen, wie es im Kopf und auf Papier vorausberechnet war? Aufgedreht und voller Emotionen quoll das Lied des Vaterlandes aus den Verlautbarungen und Zeitungen der Zeit. Wir sehn uns in sechs Wochen wieder!, haben sie sich zugerufen, als sie im Haufen davongegangen waren, vom Kirchgruber Brunnen aus, wo sie sich gesammelt hatten, die Achtzehn- bis Fünfundzwanzigjährigen, um gemeinsam nach der Kreisstadt zu marschieren, zur Eisenbahn, die sie an ihre Ausbildungsstätten brin gen würde, wer weiß wohin, die Kriegslehrlinge, die keine Angst im Herzen trugen, sondern nur den frohen Sinn, die Hirnlähmung nämlich, die eingesetzt hatte, als man ihnen sagte, dass sie endlich einmal von zu Hause weg an einen anderen, ganz unbekannten Ort der Welt getragen würden von ihres Kaisers kühner Weitsicht. Spätestens auf Kirchweih sind wir wieder da! Ja, da ist es schon zu spät, riefen die Zurückgebliebenen ihnen nach, da ist die Ernte schon herin. Ihr Faulenzer! Tät euch so passen!
     
    Faulenzen!, dachte der jüngere Sohn des Seewirts, der auf der Kante zur steil abfallenden Böschung saß, die Kühe im Augenwinkel, die er hütete, und den See in seinem Blick, der an diesem Tag weit über die Allgäuer Alpen hinausreichte, bis wer weiß wohin: Vielleicht ist der Bruder jetzt schon auf der anderen Seite der Berge. Und ich tu faulenzen!
    Wie er dem großen Bruder nachgeschaut hatte, der vorausgegangen war in der ersten Reihe der abziehenden Rekruten und am lautesten gesungen hatte von dem schönen Westerwald! Eukalyptusbonbon. Er hatte den Geschmack im Kopf und ersehnte ihn sich in den Mund. Wie ihn die Wehmut gepackt hatte, als er zurückbleiben musste, an der Hand der Mutter, mit der zusammen er den Bruder nach Kirchgrub begleitet hatte, und wie ein Hassgefühl auf sie ihm durch die Brust zog, für einen kurzen Augenblick, weil sie ihn so eisern festhielt, wo er doch alleine das Daheimbleiben-Müssen bewältigt hätte. Wie ihr Griff immer fester wurde, dass er sich gar nicht erinnern konnte, dass sie ihn irgendwann ein anderes Mal je so hart festgehalten hätte und ihn gar nicht mehr loslassen wollte, bis sie daheim waren. Wie ein kleines Kind! Ungerecht ist es, dass die andern alle älter sind und alles dürfen, und
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