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Mittelreich

Mittelreich

Titel: Mittelreich
Autoren: Josef Bierbichler , MITTELREICH
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mehr als nur Fisch. Bares Geld kam jetzt auf die Tische der noch nur vereinzelt an den Seeuferrand hingebauten Häuser in den kleinen Bauern- und Fischerdörfern, und nur Dienstbereitschaft, sonst nichts, wurde verlangt dafür. Kleine, landwirtschaftlich nur schwer zu bearbeitende Hanggrundstücke waren für beinahe unverschämt anmutend viel Geld an vermögende Herrschaften aus der Stadt verkauft worden, und bald ragten Erkertürmchen und steil aufragende Dachgiebel neu gebauter Villen aus den dicht stehenden Laubwäldern nördlich des Mühlbachs und beherbergten ein neues Käuferpotential für die einheimischen land- und seewirtschaftlichen Produkte. Mit dem baren Geld waren die alten, oft schon baufälligen Wohn- und Stallgebäude erneuert worden, und ein bis zwei Fremdenzimmer wurden erstmalig in die meist leer stehenden Speicherräume gezwängt: oben, unters Dach, nach Westen hin, mit Blick hinaus auf den See und über diesen hinweg ins Gebirge hinein. Und gleichzeitig mit dem neu errichteten Anlegesteg direkt vorm Haus war auf das eh schon bedeutend und protzig dastehende Seewirtshaus in voller Länge und Breite noch ein ganzes Stockwerk aufgezogen worden: Ein gelbes Bauernrenaissanceschlösschen war entstanden, direkt am Seeufer, weithin leuchtend sein Beschaut-Werden fordernd und zur Einkehr ladend, ein gastronomischer Fehdehandschuh, eine wirtschaftliche Provokation, in deren Folge alle bestehenden Verhältnisse verdampften . Es gab keinen Zweifel mehr: Zur Jahrhundertwende war der Reichtum eingekehrt ins kleine Dorf und lag gut verankert am Seeuferrand und im Selbstbewusstsein seiner Bewohner.
    Mit den Gästen kam ein wenig Weltblick. Sie kamen in den kleinwinkligen Häusern so nahe heran, dass man ihnen nicht mehr auskommen konnte. Man machte ihnen Platz, wo es ging. Wo es nicht ging, saß man mit ihnen zusammen und hörte zu. Und langsam sickerte die Welt hinein, wo vorher Dunst und Erde war. Unter neuen Hierarchien fand man zu neuem Auskommen. Man diente gerne und passte sich den fremden Gepflogenheiten an, den Gepflogenheiten der Gäste, der Herrschaften. Und die dankten es mit der Weitergabe ihrer Kenntnisse und Anschauungen. Bald kamen immer dieselben. Dünkel bildete sich. Man war was Besseres. Das Leben wurde sicherer. Aber die Verunsicherung wuchs.
    Nur das Wetter blieb.
    Der Süden begann, sich mit dem Norden zu versöhnen. Der Preuße als Schimpfwort verschwand aus dem Sprachgebrauch und wurde höchstens im Herbst und Winter aus der Versenkung geholt, wenn man unter sich war und lustige Geschichten erzählte. Die Landeshauptstadt, der Norden bis dahin schlechthin, wurde Durchgangsstation für Reisende, die noch von viel weiter her kamen und ihre Ferien am See und in den Bergen verbringen wollten. Aus großer Entfernung, bis dahin als unüberwindlich geltend, kamen sie nun und bildeten jeweils für die Sommermonate das Sein. Der Schrei verebbte, den das Dorf noch hatte, der Schrei der Freiheit und Unabhängigkeit im Kargen. Reichtum, bis dahin, war nur an Arbeit.
    Trotzdem: In Milch und Honig gedieh eine Unzufriedenheit, die nur schwer zu fassen war. Nicht wenige waren davon befallen wie von einer Krankheit des Gemüts. Die kurzen Tage im Jahr vergingen freudloser als ehedem. Die langen Abende wurden länger und immer länger. Gewiss: Man saß zusammen wie immer. Aber die Freude des langen Feierabends, das Beisammensitzen und Reden wärmten nicht mehr so wie früher. Man trug einen dunklen Überdruss mit sich herum, der sich gegeneinander und gegen einen selbst richtete. Es fehlte was, was nicht benennbar war. Man wartete auf etwas, wusste aber nicht auf was. Alles war leer und langweilig. Alles war so langweilig, langweilig. Man wartete, irgendwie. Auf den Sommer. Auf die Leute. Seit man sie kannte, wartete man. Das Warten hatte mit den Leuten begonnen. Man genügte sich nicht mehr. Ohne die fremden Leute, die den Sommer füllten, war man sich selbst ganz fremd geworden für den Winter. Es war eine große Unzufriedenheit. Wahrlich. Wenn nur etwas geschähe!
     

     
    Am Nachmittag des 15 . August 1914 war von den Allgäuer Alpen her eine Gewitterfront heraufgestiegen, die sich bis zum Abend aber wieder verzogen hatte, ohne sich zu ent laden. Der See lag ruhig da wie ein Spiegel. Beinahe widerstandslos glitten die Boote auf dem Wasser dahin. Ein Marienlied nach dem anderen wurde gesungen und dazwischen das Ave-Maria gebetet. Und wenn das Repertoire verbraucht war, wurde von vorne angefangen.
    Den
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