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Mittelreich

Mittelreich

Titel: Mittelreich
Autoren: Josef Bierbichler , MITTELREICH
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lesen, sagt er, und geht wieder hinein.
     
    Trotz der Hektik, die mittlerweile vor dem Haus und auf der Straße eingesetzt hat, hört Viktor die Stille. Autos fahren dröhnend vor und suchen einen Parkplatz; Radfahrer klingeln sich schreiend den Weg frei; quietschende Kinder laufen zum Wasser; Bekannte begrüßen sich scheppernd und laut; der Dampfer brüllt mit bleiernem Trompetenstoß seine bevorstehende Abfahrt herbei, ohne Viktors Stegwartdienste in Anspruch genommen zu haben. Der hört alles aus der Ferne und ganz unnatürlich, wie durch Watte. Sein Bauch furzt, seine Haut juckt, sein ganzer Körper ist ihm unbequem. Aus der Haut kann er nicht heraus, also geht er.
    Er schaut niemand an, als er geht, er grüßt nicht, er geht an allen vorbei, bis er sie hinter sich hat.
    Semi schaut ihm hinterher. Er kennt Viktor von Geburt an. Viktor saß am selben Tisch wie er und aß die gleichen Speisen, er betete dasselbe Tischgebet, er setzte sich aufs selbe Klo und langweilte sich in derselben Kirche, er feierte Weihnachten unter demselben Christbaum. Viktor ist zwar weder Onkel noch Tante, weder Vetter noch Cousine, er ist nicht verwandt und nicht verschwägert. Absolut nicht. Aber er ist Teil der großen Seewirtsfamilie. Das Einzige, was ihm verwehrt bleibt, ist der Einblick in die Finanzen und, wenn es so weit sein wird, der Platz im Familiengrab. Semi kennt ihn also gut. Deshalb fällt ihm auf, dass Viktor heute anders ist.
    Viktor ist im rückwärtigen Hausgang angelangt und schaut in den viereckigen Spiegel über dem Ausguss vor seinem Zimmer. Die silberne Folie unterm Glas ist von den Rändern her zerschlissen, so dass nur in der Mitte noch ein kleines rundes Loch frei ist, in dem er sein Gesicht gerade noch zur Hälfte spiegeln kann. Was er sieht, befördert seine Sorge: Das Gesicht ist rot über der Stirn, die nach hinten gekämmten grauen Haare sind aufgebraucht, die Augen sind fremd! Er schaut in fremde Augen. Fremde Augen schauen ihn an. Er setzt seine Brille auf, und der Eindruck wird stärker: Er hat Angst vor seinen Augen. Er hört nichts mehr. Er sieht nur noch seine fremde Angst.
    Was ist das?, fragt sich Semi, der Viktor bis zum Hausgangeck gefolgt ist und ihn von da aus ungesehen überprüft. Wie kann es sein, dass so ein Teichmolch seine Spuren zieht, ohne eine Spur zu hinterlassen? Es wird Zeit, sich zu erinnern!
     

     
    Im letzten Quartal des vorletzten Jahrhunderts waren die kriegerischen Kräfte des Landes erlahmt und hatten sich zurückgezogen, um sich zu erholen und zu sammeln für neue, viel mächtigere und zerstörerischere Vorhaben in der Zukunft. Das Land konzentrierte sich wieder auf sich selbst und seine inneren Widersprüche. Aus alten Manufakturen waren neue Fabriken herausgewachsen und hatten den einen Arbeit und den anderen immer mehr Wohlstand und Macht gebracht. Neue Berufe wurden gebraucht, um Wohlstand und Macht zu verwalten im Auftrag derer, die darüber verfügten. Und so war eine neue Mittelschicht herangewachsen, die für ihre strikte Loyalität gegenüber ihren Brotherren und eine klare und strenge Abgrenzung gegenüber den immer zahlreicher benötigten Arbeitskräften in den Industriezentren gut entlohnt wurde. Handlanger und Equilibristen der neuen, ganz besonderen Art wurden das, im Dienste eines neuen Reichtums, der sich, grenzenlos im Sinn des Wortes, zu entwickeln trachtete und dementsprechend einen Weg in grenzenlose Welten suchte. In diesem Reichtum war der neue Mittelstand aus Beamtenschaft und Akademikern gediehen, und es hatten sich Bedürfnisse herausgebildet, die in früheren Zeiten nur dem Adel und seiner Entourage vorbehalten waren. Freizeit wurde ein neues Wort und bekam Flügel. Wochenendvilla, Sommerurlaub, Baden, Rudern, Dampfschifffahren wurden Füllwörter, die sich zu Bedürfnissen auswuchsen in großstädtischen Etagenwohnungen, um nach und nach in die Tat umgesetzt zu werden. Dieser Mittelstand im Dienste des expandierenden Kapitals, das von immer neueren technischen Errungenschaften in einen stetig wachsenden Produktionsrausch versetzt wurde, war auch zur Quelle eines neuen Reichtums in kleinen Seegemeinden geworden. Die bis dahin brachliegende und als feindlich angesehene Naturlandschaft südlich der Großstadt bis hin zu den Alpen war von diesem neuen Mittelstand entdeckt und erobert worden. Das Land hatte auf nicht gekannte Art zu blühen begonnen. Der Boden rund um die Ausflugs- und Urlaubsorte gab nun mehr her als nur Brot und Milch, der See
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