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Mittelreich

Mittelreich

Titel: Mittelreich
Autoren: Josef Bierbichler , MITTELREICH
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davor mit den Juden. Wie man sich da als Schädling hat müssen anreden lassen. Das war nicht gerade freundlich. Da hatten viele Angst, dass da was womöglich möchte auf sie zukommen. Wie schon mal zuvor. Und viele waren da noch immer einquartiert bei fremden Leuten, die ja das auch nicht haben gern hergegeben und freiwillig, wenn sie da haben müssen ein Zimmer zur Verfügung stellen. Die haben das auch gelesen von dem Minister. Da war ein paar Monate lang eine eisige Stimmung in den Häusern, wo Flüchtlinge waren untergebracht. Hier bei ihnen, mit den Wetzels, da ist oft scharf geredet worden damals zwischen ihnen und dem alten Wetzel, wenn der Junge von dem, der Günther, der verfluchte Krüppel, hat mal wieder was ausgefressen. Und der hat beinah jeden Tag was ausgefressen. Aber als dann die Ausländer sind gekommen, nach und nach, da hatten dann die meisten auch schon wieder eine eigene Wohnung und zum ersten mal Fernsehen, später kam dann das Auto zu, da war dann das Verhältnis von die Einheimischen zu die Sudetendeutschen und zu die Schlesier, wie soll ich sagen? ... da war das entschärft. So Ende der Fünfzigerjahre war das dann, Anfang der Sechziger, als es aufwärtsging und die ersten Ausländer sind gekommen. Da war das nicht mehr so aufgeladen wie zuvor. Da ist, ich möchte mal so sagen: was abgeleitet worden. Da merkten sie dann, dass sie doch alle gewesen sind Deutsche. Weißte, ich möchte mal so sagen: Ich halt von die Ausländer nich viel. Wozu brauchen wir die? Wenn alle arbeiten würden hier, die wo können, dann bräuchten wir keine Ausländer. Ich nicht. Aber für uns waren sie gut damals, für die Schlesier und die Sudetendeitschen. Da haben die uns geholfen, ohne dass sie das wussten, die Ausländer. No, und wie dann die Siedlungen sind gebaut worden für die Flüchtlinge, da hat sich dann alles wieder aufgelöst. Da warn die dann schließlich doch alle wieder unter sich, die Schlesier und die Sudetendeitschen, da sind die gelandet beinahe wieder in so eine Art Getto, möchte ich fast sagen. Wie die Juden. No! Da wollte ich nicht mehr hin.
    Wenn man nur immer wüsste, was für eine Partei man nicht wählen soll. Hätten wir das damals gewusst, vielleicht wär ich gar nich da. – Ja ja, dein Vater. Der war gewesen ein feiner Mensch.
     
    Hier machte er Schluss. Er saß zusammengesunken in seiner Bettstatt und hatte die Augen weit aufgerissen. Ich glaube nicht, dass er mich bemerkt hat, obwohl er auch mit mir zu reden schien. Es wäre mir sowieso egal gewesen. Viel hatte ich nicht verstanden, weil ich nicht hinhörte, nicht zugehörig war seinem Gerede, seinem sentimentalen Geseire von früher. Das ging mir am Arsch vorbei. Ich wollte ihn gar nicht verstehen. Ich bin mit der Mutter belegt in meinen Zuhör- und Auswertungsmechaniken. Da dringt kein anderes mehr ein. Ihr Leichnam liegt oben in meinem Hirn. Den kann ich nicht alleine lassen drin im Grab. Das meiste von Viktors Gerede habe ich nachempfunden, nachher erfunden heißt das. Aber das langt ja auch. Fürs Vergangene reicht Erfinden. Echt ist nur jetzt.
    Ich ging die Treppe hinauf zum alten Taubenschlag über dem Getreidespeicher. Da legte ich mich auf den Bauch und sah ihm durchs Taubenflugloch zu. Von da aus konnte ich ihm direkt ins Fenster schauen. Ich sah ihm zu beim Sterben und konnte so am besten denken. Soweit ich mich erinnere, hat er nach der Rede aufgehört zu essen und war am fünften Tage tot. Wie der Suppenkaspar. Oder wie ein Hund, der nichts mehr frisst, weil sein Herrchen tot ist.
     
    Die Erde ist keine Heimat.
     
    Im Taubenschlag lässt sich’s gut warten ...
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