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Mittelreich

Mittelreich

Titel: Mittelreich
Autoren: Josef Bierbichler , MITTELREICH
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Bolschewismus und das Weltjudentum. Es sei nur noch eine Frage der Zeit. Die Heeresleitung aber zog insgeheim bereits Teile der deutschen Truppen ab, deren Einsatz wider den russischen Gegenangriff nach der Kapitulation der Wehrmacht im Kessel von Stalingrad nicht mehr sinnvoll schien. Man suchte die noch einigermaßen unverbrauchten und kampffähigen Einheiten gegen die drohende Invasion der Alliierten an der Atlantikküste in Stellung zu bringen. Der Seewirt und der Kranz, die zu einem Verpflegungstross gehörten, waren mit ihrem Küchenwagen auf dem Weg in die Normandie, als sie an einem schon frühlingshaften Tag im April des Jahres 1944 durch eine zerschossene und zum großen Teil niedergebrannte Kleinstadt irgendwo im Osten kamen und von einer Gruppe SS -Männer angehalten wurden. Die ranghöheren Soldaten der Schutzstaffel forderten sie auf, den containerähnlichen Küchenwagen aller inneren Einrichtungsgegenstände zu entledigen und sich für einen Sondereinsatz bereitzuhalten. Sie taten, wie ihnen befohlen. Nach einiger Zeit kamen zwei Mechaniker der Wehrmacht, kuppelten einen langen Schlauch an den Auspuff des Küchenwagens und führten diesen durch eine Oberlichte ins Wageninnere. Anschließend dichteten sie Fenster und Tür mit äußerster Sorgfalt ab. Danach verging noch etwa eine Stunde, bis aus einer Seitenstraße heraus, flankiert von vier SS -Männern, eine Schar Kinder auftauchte, die, in eine Zweierreihe geordnet, stumm auf sie zu kam. Man hörte nur, vom feuchten Straßenstaub gedämpft, die dumpf aufsetzenden Stiefeltritte der vier Bewacher. Sonst war es, bis auf einen leisen Windhauch, der von Osten her durch die breite Straße strich und die ersten grünen Blätter an den wenigen, noch stehen gebliebenen Alleebäumen zum Flirren brachte, still, und nichts war zu hören und zu spüren. Die Kinder waren barfuß, ihre Köpfe unbedeckt, die Gesichter klar. So ein stilles abgeklärtes unverbraucht unbrauchbares Wissen in Gesichtern habe ich noch nicht gesehen, dachte sich der Seewirt damals und erinnerte sich jetzt wieder seiner damaligen Gedanken. Unverbraucht und doch unbrauchbar. Dass es so was gibt, dachte er sich.
    Ein SS -Mann öffnete die zweiflügelige Hecktür des Küchenwagens, und die Kinder – es werden etwa dreißig gewesen sein, dachte, um eine korrekte Erinnerung bemüht, der Seewirt, bestimmt waren es nur dreißig, mehr hätten im engen Küchenwagen gar nicht Platz gehabt – bestiegen, sorgsam und vorsichtig ihre nackten Fußsohlen auf die spitz gezackten Gitterroststufen setzend, die dreistufige Eisentreppe und traten dann, stumm, wie sie den Weg gekommen waren, ins Eisengrab hinein. Ohne Laut. Nur Blicke.
    Das sah der Seewirt nicht zum ersten Mal. Nur bei Kindern – es ist anders als bei Kälbern, dachte er – hatte er so was noch nicht gesehen. Da hab ich dann doch immer wieder Glück gehabt, dachte er, der junge Seewirt, damals, und fühlte weiter nichts. Er war Soldat.
    Er war neben der dreistufigen Eisentreppe gestanden, die in den Kübelwagen hineinführte, auf der anderen Seite stand der Kranz, und sie hatten aufpassen müssen, dass nicht im letzten Moment noch ein Kind die Flucht wagen würde. Der Offizier der SS hatte es so befohlen. Sie schauten beide konzentriert in die Gesichter der Kinder, als diese vorsichtig die Treppe hinauftasteten, um einen Willen zur Flucht schon in deren Augen lesen zu können. Auch das hatte der Offizier so befohlen.
    Dieser befohlene Argusblick war ihnen in den Kinderaugen zum Spiegelblick und dieser zum inneren Zustand ge worden, beiden, dem Seewirt und dem Kranz, denn beide fühlten sie sich seitdem von diesem Blick beobachtet – von ihrem eigenen Argusblick von damals. Er war der Klammergriff um ihre Kameradschaft geworden, die nie aufgelöst, lediglich mit den Jahren etwas vernachlässigt worden war; er war ihnen Geheimnis und Bedrohung zugleich geworden, Zaumzeug an ihrer Lebensfreude; hundertfach schaute dieser Blick und immer gleich: unverbraucht-unbrauchbar – und wissend.
    Dem Seewirt war es im neu gewonnenen Ehe-, Familien- und Wirtschaftsglück der Nachkriegsjahre gelungen, diesen Blick zu verdrängen. Er hatte sich ihm mit Hilfe der Gatten- und Kinderliebe und der Freude am materiellen Gedeih entziehen können. Auch nachts im Schlaf und jahrelang. Jetzt aber war er zurück. Und er wusste im selben Moment, er würde sich dieses Blickes nun nicht mehr entledigen können. Sein über dreißig Jahre alter Sohn, zwei Jahre nach
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