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Mittelreich

Mittelreich

Titel: Mittelreich
Autoren: Josef Bierbichler , MITTELREICH
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MITTELREICH
    N u lass du den doch auch mal ran, murmelt der alte Mann und schlägt mit seiner Linken nach dem flatterhaften Vogel. Is nich alles für dich! Hier kriegt jeder was ab, nich nur von die Großen. Auf dem Rücken seiner rechten Hand wippt fett ein Spatz und sticht mit seinem Schnabel nach dem Krümel Brot in seiner linken. Von seinen Knien aus streckt sich ein anderer und hüpft und flattert wild nach oben. Auf seiner Schulter sitzt ein dritter da, wie unbeteiligt oder satt. Auch auf der krummen Fassung von dem alten Drahtkorb voller ausgetriebener Kartoffeln trippeln welche, und um die Schüssel mit den schon gezupften picken sie und flattern. Von Zeit zu Zeit segeln andere vom Dach herunter, um gleich furchtsam wieder abzudrehen. In drückender Hitze steht die Luft unbeweglich in der Auffahrt zwischen dem Haupthaus und den Nebengebäuden.
    Verfluchter Krüppel, schimpft der Mann. Ein Spatz hat sich im Sturzflug von der Regenrinne aus auf seine linke Hand geworfen und fliegt nun mit dem Krümel Brot in seinem Schnabel wieder weg. Verfluchter Krüppel! – und es klingt anerkennend. Ein Schatten jagt zwischen den seitlich stehenden Mülltonnen heraus und landet wie ein Wurfgeschoss auf dem Schoß des alten Mannes. Und wie nach einem Windstoß im Herbst das dürre Laub, so wirbelt jetzt das Spatzenvolk davon. Der Schatten ist Mandi, der Kater. Der Mann seufzt müde und fängt an, ihm mit der einen Hand den Kopf zu kraulen. Mit der anderen krault er ihm den Nacken. No! Nu sind se alle weg!, sagt er, und es ist ein Einvernehmen zwischen Mann und Tier, als sprächen beide ..., und dann liegt der gerade noch wild durchflatterte Hofschacht zwischen Straße und Hinterhof wieder in stiller vorläufiger Ruhe.
    Der Kater flegelt sich schnurrend mit geschlossenen Augen auf Viktors Schoß. Die Krallen der Vorderpfoten vergraben und öffnen sich rhythmisch im Gewebe der fettigen Cordhose. Über den Körper des Katers hinweg hat Viktor seine Arbeit wieder aufgenommen und zupft den Kartoffeln die Triebe aus. Unterm Schild der alten Wehrmachtsmütze glänzt der Schweiß auf seiner Stirn. In der Dachrinne dösen die verjagten Spatzen hinter halb geschlossenen Augenlidern vor sich hin. Die Auffahrt herunter tanzt ein junges Huhn in einem Mückenschwarm. Die feuchte heiße Luft scheint fast zu schmatzen. Sonst ist es still. Der heiße Juninachmittag verdaut den kühlen Morgen.
    Viktor hebt den Kopf leicht an und dreht ihn ein wenig nach rechts – dann lauscht er. Unterm Dachgiebel der Remise hört er es leise kratzen und scharren, rutschen und schaben, dazwischen unterdrücktes Kichern und verhaltenes Flüstern von Kinderstimmen. Dann wieder Stille. Im großen Haus rauscht eine Toilettenspülung, und zischelnd füllt sich der Spülkasten. Auch danach ist es still.
    Hitze. Stille. Schweiß.
    Wie aus dem Nichts durchschlägt ein Kampfflugzeug den Schall, den Himmel, die Luft und den Mittag, die Ohren, das Gemüt, die Geduld und die Liebe, die Hoffnung, die Zukunft, alles ..., und verschwindet wieder mit einem minutenlang verebbenden, nicht mehr enden wollenden Maschinendonnergrollen am Himmel.
    Der Kater ist mit einem Satz von Viktors Schoß herunter direkt gegen den Drahtkorb geprallt und duckt sich nun mit weit aufgerissenen Augen unter die Remisenbank. Ins Laub der umstehenden Holundersträucher haben sich die Spatzen geflüchtet und flattern und stürzen im dichten Blattwerk hilflos durcheinander. Ein orientierungslos gewordener Eichelhäher, der sich im Sturzflug auf die Stahlbetondecke der Jauchegrube geworfen hat, bleibt tot in einem kleinen Blutfleck liegen.
     
    Es ist Ende Juni 1984 . Der kalte Krieg scheint sich erwärmen zu wollen für einen heißen. Die Weltfriedensplaner rüsten für ein Nachrüsten. Industrie und amtierende Politik durchleben fette Jahre.
     
    Unterm Dachgiebel der Remise hält der Schreck den Atem gepresst in den jungen Lungen gefangen. Am Himmel verliert sich nach und nach der tödliche Lärm. Mit einem kurz herausgestoßenen: Ohh! Das war ein Düsenjäger! Wahnsinn! nehmen auch wieder das Atmen und die Lebenserkundungen im Kinderversteck ihren Fortgang, als wäre nichts gewesen. Nichts.
    Unten auf der Straße fahren ein paar Radler vorbei, junge Leute mit Badesachen auf den Gepäckträgern. Jetzt kommen sie wieder, die Titten, murmelt Viktor, und mit ihnen die Gefühle. Eine Grimasse verzieht sein Gesicht. Ich hätte müssen für meine sexuellen Bedürfnisse vorsorgen, nicht für die Rente.
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